Blutiger Frühling
geht das Erbe auch an den Richtigen.«
Albrecht musste lächeln. Das Bild eines zierlichen jungen Mädchens mit dunklen Augen und schwarzbraunem Haar war plötzlich vor seinem inneren Auge aufgetaucht. »Vielleicht hatte er aber doch Recht«, murmelte er versonnen, »und ich bin schon vor zwei Tagen vom Wolf zum Hund geworden ...«
W ir gehen zur Kirchweih«, sagte Anna Elisabeth und streichelte dem kleinen Mädchen über das Strubbelhaar, »ich sorge dafür, dass ihr alle einen Wecken bekommt – und wenn ich dafür singen und tanzen muss!«
Das Kind lachte und klatschte in die Hände. »Kommt Mutter vielleicht auch hin?«, fragte es erwartungsvoll.
Anna Elisabeth richtete den Blick wieder auf ihre Näharbeit und stichelte weiter an dem dicken braunen Wollzeug, das auf ihren Knien lag. »Nein«, gab sie der Kleinen zur Antwort.
»Warum?«, wollte das Kind wissen.
»Sie kann ja nicht«, sagte Anna Elisabeth, »sie ist doch bei den Engeln.«
»Aber vielleicht lassen die Engel sie gehen«, meinte die Kleine hoffnungsvoll, »dann kommt sie doch, und wir feiern alle zusammen ...«
»Ach, Mariechen.« Anna Elisabeth legte die Nadel für einen Augenblick aus der Hand und sah das Kind an. »Wenn sie das könnte, würdest du sie gar nicht sehen.«
»Warum?« Mariechen ließ nicht locker.
»Weil sie jetzt selbst ein Engel ist.«
»Aha.« Die Kleine legte den Kopf schief. »Aber warum kann ich sie nicht sehen?«
»Weil Engel unsichtbar sind.« Anna Elisabeth nahm ihre Arbeit wieder auf. Sechs Wochen war es jetzt her, dass man die Barbara zu Grabe getragen hatte, und die anderen Kinder hatten auch begriffen, dass ihre Mutter nicht wiederkehren würde. Nur die kleine Marie mit ihren drei Jahren wollte es immer noch nicht wahrhaben.
Jetzt fragte sie wieder: »Warum?«
Anna Elisabeth gingen die Erklärungen aus. »Sieh mal, Schätzchen«, erwiderte sie geduldig, »den lieben Gott können wir Menschen doch auch nicht sehen – denn er lebt im Himmel. Aber er kann uns sehen und weiß immer, was wir tun.«
Das Kind machte ein nachdenkliches Gesicht. »Kann Mutter mich auch sehen?«, wollte es wissen.
»Ich glaub schon«, sagte Anna Elisabeth. »Sie schaut vom Himmel auf dich herab, und –«
»Und warum kommt sie dann nicht einfach mal zu mir herunter?« Marie war immer noch nicht zufrieden. »Es wär so schön, wenn sie da wär – auch wenn ich sie nicht sehen könnt!«
»Vielleicht ist sie ja manchmal da«, mutmaßte Anna Elisabeth. »Vielleicht hat der liebe Gott sie zu deinem Schutzengel gemacht, und sie passt jetzt auf dich und deine Geschwister auf...«
Marie schob die Unterlippe vor. »Ich will aber, dass ich sie sehen kann«, sagte sie schmollend. »Sie soll wiederkommen – das soll der liebe Gott machen!« Sie heftete forschend den Blick auf Anna Elisabeths Gesicht. »Du hast doch gesagt, der liebe Gott kann alles, Annelies!«
Anna Elisabeth steckte die Nähnadel in den Stoff und schnitt einen neuen Faden ab. »Das kann er«, bestätigte sie dem Kind, »aber willst du wirklich, dass sie aus dem schönen Himmel wieder in eure kleine Hütte kommt? Ich meine – sie hat es doch jetzt so viel besser ...«
Mariechen dachte nach, das sah man ihrer ernsten Miene an. »Ist es immer warm im Himmel?«, fragte sie schließlich. »Und hat meine Mutter immer genug zu essen ... auch Wecken mit Rosinen?«
»Sie kriegt im Himmel alles, was sie sich nur wünschen kann«, sagte Anna Elisabeth.
»Alles?« Mariechen machte große runde Augen. »Sogar ... ein Stück Braten und weißes Brot, so viel sie will?«
»Aber ja!«
»Und sie muss nicht mehr so viel arbeiten – und es tut ihr nie der Rücken weh, und die Sorgen sind alle weg?«
»Nie mehr.«
»Dann will ich, dass sie im Himmel bleibt.« Die Worte des Kindes waren durchdrungen von Überzeugung. »Ich hab sie lieb ... auch wenn ich sie noch lieber bei mir hätte ...«
Anna Elisabeth lächelte über das ernste, gläubige Antlitz des kleinen Mädchens. Gleichzeitig stiegen ihr unvermittelt die Tränen in die Augen. Wie bescheiden sich das Kind den Himmel vorstellte – gutes Essen hin und wieder, Wärme, weniger Arbeit und kein Schmerz ... Das war weiß Gott nicht zu viel verlangt – auch nicht für diese Welt.
Sie fädelte die Nadel ein und arbeitete weiter. Der Kindermantel, den sie nähte, sollte für Mariechen sein. Zwei warme Jacken hatte sie bereits für Matthias’ kleine Jungen gemacht; die dicke Decke, die der Reiter damals einfach
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