Blutiger Frühling
Päckchen nicht weggeworfen hast.«
Der Betteljunge machte einen Kratzfuß und verbeugte sich dabei so tief, dass ihm beinahe die Mütze vom Kopf fiel. »O, danke, Herr«, sagte er während seine dünne Kinderstimme vor Begeisterung zitterte. Er wollte weitersprechen, aber Albrechtbrachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. »Geh jetzt – und Glück auf dem Weg!«
Als er und Christoph den Raum verlassen hatten, entfaltete Albrecht mit unsicheren Bewegungen das Stück Birkenrinde. Auf seiner weiß gescheuerten Innenseite standen, mit einem Stückchen Kohle hingemalt, deutlich leserliche, kurze Sätze:
Kan nit zur hüte komen . fater likt ufn tot . hab gedult . ewik daine ana
Sie hatte bereits schreiben gelernt, auch wenn sie noch nicht wusste, wie die Worte zu buchstabieren waren. In nur wenigen Tagen hatte sie erreicht, wozu er als Junge in der Lateinschule viele Monate gebraucht hatte!
Ihr Vater war krank. Sie konnte nicht zum Treffpunkt kommen. Aber es war ihm unmöglich, Geduld zu üben. Er brauchte dringend einen Plan.
E s war, als laste die Nacht in der Schlafkammer unter dem Schindeldach dunkler und bedrückender auf den Menschen als unten im Wohnraum. Die Schatten lagerten massiger und undurchdringlicher außerhalb des kleinen gelben Lichtkreises, den das Unschlittlicht warf, und das Atmen wurde einem schwer.
Der alte Mann lag auf dem Rücken, das Gesicht gegen die Dachsparren gerichtet, und schien vor sich hin zu dämmern. Seine Brust hob und senkte sich in unregelmäßigen Bewegungen – nach einem nicht mehr erkennbaren Rhythmus. Die Haut seines Gesichts war fahl und pergamenten; seine Augen lagen tief in den Höhlen, beinahe so, als sei er schon gestorben.
Doch er atmete noch. Und jetzt wandte er sich an seine Tochter, die neben seinem Lager die Nacht durchwachte. »Annelies ...«, kam es leise aus seinem dünnlippigen Mund.
»Ja, Vater?« Anna Elisabeth hob den Kopf und sah ihn an. Sie hatte offenbar ein wenig gedöst und war jetzt wieder hellwach.
»Ich ... will, dass du mir ... genau zuhörst ...«, flüsterte der alte Mann. »Ich muss dir noch viel ... sagen ... bevor ich ...«
»Still, Vater.« Anna Elisabeth legte ihm zärtlich den Finger auf den Mund. »Wenn du wieder gesund bist, kannst du mirdas alles doch viel besser erzählen. Jetzt solltest du lieber ausruhen. Das Reden strengt dich viel zu sehr an!«
»Nein, nein!« Er richtete den Blick auf Anna Elisabeth; seine Augen sprühten plötzlich kleine zornige Blitze – beinahe so wie früher, wenn er wütend geworden war. »Lass mich ... Anne- lies ...«, fuhr er fort, »mir bleibt ... nicht viel Zeit ...«
»Ach was.« Anna Elisabeth versuchte die lähmende Angst zu ignorieren, die in ihr aufstieg. »Zeit hast du noch mehr als genug. Aber wenn es denn unbedingt sein muss, so rede halt. Ich hör dir zu.«
Der Alte sog die Luft tief in die Lungen. »Ich war nicht allein ... im Loch«, flüsterte er. »Bei mir waren noch drei andere ... junge Männer, die alle Weib und Kinder hatten ...«
»Das überrascht mich nicht«, unterbrach ihn Anna Elisabeth nüchtern. »Der Abt hat nie ein langes Federlesen gemacht, wenn’s um die Abgaben ging.«
»Sie ... sind verhungert ...«, wisperte der Alte, ohne auf den Einwurf seiner Tochter zu achten, »obwohl ich ihnen ... einen Teil von meinem Brot überlassen hatte ...«
»Sie waren jung, wie du schon sagtest«, mischte sich Anna Elisabeth noch einmal ein. »Sie brauchten eben mehr Nahrung als du, Vater.«
»Sie forderten Rache, bevor sie starben ...«, hauchte der Alte atemlos. »Sie wollten Genugtuung ... für ihre Frauen und unmündigen Kinder ...«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Anna Elisabeth. »Aber wir wissen doch auch alle, dass wir machtlos sind, Vater. Niemand kann ihnen zu einem anderen Recht verhelfen als dem, was der Abt ihnen zubilligt.«
»Die Klosterknechte werden den Witwen und Waisen den Todfall abnehmen«, stieß der Alte wild hervor. »Die Kinder und ihre Mütter werden obdachlos sein ... sind es jetzt sicher schon! Aber ihre Männer, ihre Väter schreien ... nach Rache!«
»Du sagtest doch, sie seien gestorben ...«
»Ihre Seelen ... sind es nicht«, keuchte der Alte. »Sie irren umher und finden ... keine Ruhe ... und sie fordern ... Vergeltung...«
»Aber Vater!« Anna Elisabeth versuchte noch einmal, den alten Mann zu beruhigen. »Was redest du denn da? Erst neulich hat der Pfarrer gesagt, dass alle Rache bei Gott
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