Blutiger Frühling
wieder hier«, meinte Hannes Rebmann. »So lange musst du ohne einen Mann im Haus zurechtkommen, Annelies. Wirst du’s können?«
Anna Elisabeth nickte. Irgendwie war ihr das, was da gerade besprochen worden war, völlig gleichgültig. Ihr Vater lag auf der Totenbahre – alles andere zählte nicht. Schmerz und Trauer überlagerten jegliches andere Gefühl – nur eines nicht: die Sehnsucht nach Albrecht.
Mit leeren Blicken sah sie der kleinen Truppe nach, die unter Hannes Rebmanns Führung durch den Schnee davonstapfte. Die Männer wollten das Kloster überfallen, wollten Vergeltung für die Übergriffe der letzten Zeit. Sie waren jetzt zornig genug, um zurückzuschlagen. Sonderbarerweise fühlte sich Anna Elisabeth von dem überaus gefährlichen Vorhaben überhaupt nicht berührt ...
Sie setzte sich auf den Schemel an der rechten Seite der Totenbahre. Wie still und steinern ihr Vater dalag – gerade so, als ginge auch ihn der ganze Aufruhr unter den Dorfbewohnern jetzt gar nichts mehr an. Dabei war doch er es gewesen, der in den letzten Augenblicken seines Lebens eben diesen Aufruhr geschürt und zu heller Flamme angefacht hatte!
Anna Elisabeth wischte sich über die Augen. Ihr Vater war immer ein ruhiger, entschlossener Mann gewesen, besonnen und durchaus friedfertig. Aber was er kurz vor seinem Tod gesagt hatte, das hatte nicht milde geklungen.
Andererseits – wer wusste schon, was der Vater während seiner Gefangenschaft beim Klostervogt erlebt hatte? Wer konnte die Gründe nennen, die ihn zu seinen Rachegedanken bewogenhatten? Unwillkürlich kam Anna Elisabeth der sonderbare Fremdling in den Sinn, der vor Weihnachten kurz in ihrem Haus zu Gast gewesen war: Joos Fritz, der von den Zwölf Artikeln gesprochen hatte und davon, dass allen Christenmenschen die gleiche Freiheit zustand. Vielleicht waren es diese Gedanken, die den Vater in seinen letzten Lebensstunden bewegt hatten ...
Joos Fritz hatte damals von Widerstand berichtet, von Bauernheeren, die sich sammelten, von Verhandlungen, die angesetzt waren. Auch hier in ihrem Heimatdorf hatte sich eine Gruppe von Männern zum Widerstand zusammengetan. Und Hannes Rebmann, ihr eigener Verlobter, war Anführer dieses bewaffneten Haufens. Jetzt, in diesem Augenblick, marschierten die Männer gegen den eigenen Grundherrn, um sich zum ersten Mal seit Menschengedenken für ein Unrecht zu rächen, das ihnen angetan worden war.
Anna Elisabeth fröstelte. Sie wandte den Blick von dem starren Antlitz ihres Vaters ab. Nicht nur er hatte ihr in seinen letzten Augenblicken Furcht eingeflößt; es war überhaupt beängstigend, was in letzter Zeit geschah. Für Anna Elisabeth hatte die Angst zwar bis jetzt kein Gesicht. Sie war körperlos, namenlos, wesenlos. Aber sie war da und hing bedrohlich wie ein riesiger schwarzer Schatten über ihrem Leben.
Wie beiläufig wischte sie sich eine Träne von der Wange, die ihr nicht die Trauer, sondern ein schmerzhaftes Gefühl der Verlassenheit abgepresst hatte. Albrecht, dachte sie, wenn du doch jetzt bei mir sein könntest ... dann wäre alles ganz leicht zu ertragen ...
Es klopfte an der Tür. Michel machte auf. Draußen stand ein junger Mann in einem dicken, mit Kaninchenfell gefütterten Wollmantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und begehrte Einlass.
»Was wollt Ihr denn?«, fragte der Michel.
»Ich bringe eine Botschaft«, sagte der Fremde. »Ist es gestattet, einzutreten?«
Der Michel warf einen unsicheren Blick auf Anna Elisabeth, die mit gesenktem Kopf neben der Bahre saß und sich nicht geregt hatte. »Ihr seid in einem Trauerhaus«, wies er den Fremden ab. »Geht fort und kommt ein andermal wieder!«
Doch der junge Mann ließ sich nicht so leicht entmutigen. »Frag erst deine Herrin, ob sie nicht doch mit mir sprechen will«, forderte er, diesmal im Befehlston.
Und der Michel konnte nicht anders als gehorchen. »Draußen steht einer, der will eine Botschaft bringen«, sagte er zu Anna Elisabeth. »Soll ich ihn hereinlassen ... oder lieber nicht?«
Anna Elisabeth schien nicht gehört zu haben. Sie gab keine Antwort. Doch der fremde junge Mann war auch ohne Erlaubnis einfach in die Stube eingetreten und hatte die Kapuze vom Kopf gestreift.
»Christoph«, sagte Anna Elisabeth mit zitternden Lippen.
»Dies soll ich übergeben«, erwiderte Albrechts Bruder und zog einen eng zusammengerollten Papierbogen aus seiner Gürteltasche. »Ich hoffe, es kann Euch von Nutzen sein ...«
»O Christoph!« Anna Elisabeth
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