Blutiger Frühling
zum Begräbnis erschienen. Dicht an dicht umstanden Männer, Frauen und sogar Kinder die offene Grube, die sich dunkelbraun im Schnee abhob. Auch aus den Nachbardörfern waren Menschen erschienen – Leute, die Anna Elisabeths Vater geschätzt und geachtet hatten und an seinem unzeitgemäßen Ende großen Anteil nahmen.
Anna Elisabeth selbst stand, fest eingehüllt in ihren dicken blauen Wollmantel, am Rand der Trauergemeinde. Um sie herum drängten sich die Kinder des armen Matthias, und das kleine Mariechen hielt ihre Hand umklammert. Aber sie nahm die Kleinen kaum wahr; seit dem Todestag ihres Vaters fühlte sie sich innerlich wie versteinert und hatte Mühe, auf die Menschenihrer Umgebung einzugehen. Ihre Augen aber hatten schon lange keine Tränen mehr.
Der Dorfpfarrer war nirgends zu sehen. Statt seiner hielt ein junger Pastor die Leichenrede – einer, den im Kirchdorf bisher noch niemand zu Gesicht bekommen hatte. Der Mann hatte wild zerzauste dunkle Locken, in denen keine Tonsur zu sehen war, und trug statt des Ornats nur eine schlichte schwarze Kutte. Auch seine Grabrede unterschied sich von der, die der alte Dorfpfarrer wahrscheinlich gehalten hätte.
»Ihr Lieben«, begann er mit tönender Stimme, »wir sind hier versammelt, um einem ehrenwerten Mann das letzte Geleit zu geben – einem, der sein Leben in der Furcht Gottes verbracht hat. Nun wurde es ihm genommen, zu früh und von einem, der vor allen anderen seine Nächsten wie sich selber hätte lieben müssen – dem Abt von Kaltenbrunn. Er wurde eingekerkert ohne Grund, wurde an Leib und Leben geschädigt und zu Tode gebracht von einem Mann der Heiligen Mutter Kirche.«
Lautes Gemurmel erhob sich unter den Anwesenden. Der junge Pastor sah sich triumphierend um. »Und darum«, fuhr er fort, »darum dürfen die Lämmer nicht länger schweigen, wenn es ihre Hirten versäumen, sie zu weiden. Die Lämmer müssen ihre Stimme erheben und dem obersten aller Hirten ihr Leid klagen, und dieser oberste aller Hirten wird ihnen nicht zürnen, wenn sie sich der pflichtvergessenen Hirten entledigen.«
Das Gemurmel schwoll an, Beifallsrufe klangen auf. »Ihr Lieben«, endete der junge Pastor seine Predigt, »wenn wir den Leib dieses guten Mannes nun zur Erde betten, so wollen wir uns selbst und den Unsrigen geloben, Rache zu üben für diesen hier und all die vielen, die sein Schicksal teilen oder geteilt haben. Wir wollen seiner gedenken und die Schmach, die er erdulden musste, nicht ungesühnt lassen. Lasset uns nun beten ...«
Er intonierte das Gebet des Herrn in deutscher Sprache:»Vater unser, der du bist in dem Himmel – geheiliget werde dein Name ...«
Anna Elisabeth hatte es so noch nie vernommen und hörte staunend zu. Zum ersten Mal verstand sie, was die lateinischen Worte bedeuteten. In großer Verwunderung lauschte sie, als der junge Priester danach auch noch das Credo auf Deutsch sprach: »Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden ...«
Die anderen Mitglieder der Trauergemeinde schienen ebenso fasziniert. Sie alle hingen an den Lippen des jungen Pastors, und noch geraume Zeit, nachdem er Gebet und Glaubensbekenntnis zu Ende gesprochen hatte, schwiegen sie ehrfurchtsvoll. Auch nachdem der Gottesmann den Segen gesprochen hatte, verharrten sie noch ein Weilchen in feierlichem Schweigen und verließen erst dann, einer nach dem anderen, den kleinen Friedhof.
Zuletzt standen nur noch Anna Elisabeth, Hannes Rebmann und Matthias’ Kinder am Grab. Hannes reckte die Schultern. »Ich schaufele die Grube zu«, sagte er, »der Totengräber liegt krank danieder – du weißt ja. Er gehörte zu denen, die bei unserem Zug in die Vogtei ein bisschen verwundet wurden.«
Anna Elisabeth wusste es. »Komm heim, sobald alles fertig ist«, sagte sie nüchtern. Dann wandte sie sich mit den Kindern zum Gehen. Doch sobald sie mit ihrer Schar den Wald erreicht hatte, schickte sie die kleine Gertrud und ihre Geschwister voraus. »Du kannst daheim schon die Suppe ans Feuer stellen«, trug sie dem Mädchen auf. »Ich muss noch mal zurück – zu einer Nachbarin im Kirchdorf. Es eilt und kann nicht warten. Ich komme nach, so schnell ich kann. Aber wenn der Hannes vor mir da sein sollte und es ihm zu lange dauert, dann trag du mit dem Michel das Essen auf.«
»Mach ich«, sagte Gertrud. Anna Elisabeth drückte dem Kind die Hand. Auf die Kleine war Verlass, das wusste sie. Gertrud würde schon alles richtig machen.
Sie wartete, bis
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