Blutiger Klee: Roman (German Edition)
Lenker umklammert hielten. Zurück, nach Hause. Beinahe hätte er
aufgelacht unter dem Helm. Zu Hause sein, wie sich das wohl anfühlte?
In seinen
Volksschuljahren hatte er immer wieder davon geträumt, ein Findelkind zu sein. Aber
kein Schweinehirt, der in Wirklichkeit ein Prinz war, so wie in den Märchenbüchern.
Sein Traum hatte immer mit einem leisen, aber beharrlichen Klopfen am großen Portal
begonnen. Der Jakob öffnete und draußen stand eine Frau, sie war einfach gekleidet,
aber ihr Gesicht war so lieb und sanft.
»Sie wünschen?«,
fragte der Jakob streng.
»Ich bin
gekommen, um den Raffi zu holen«, sagte die Frau.
»Unerhört«,
begann der Jakob zu schimpfen, »so ein Unsinn, hier gibt es niemanden zu holen!«
Und er wollte der Frau den schweren Türflügel vor der Nase zuschlagen. Doch die
ließ sich nicht abschrecken.
»Raffi,
komm!«, rief sie zu ihm hinauf. Er hatte sich hinter dem Treppengeländer im ersten
Stock versteckt, aber jetzt lief er hinunter, am Jakob vorbei, mitten in die Arme
der Frau, die sich so weich und warm anfühlten wie die alte Kuscheldecke in der
Küche, auf der die Hunde schliefen. Dann gingen sie eng umschlungen die Stufen zum
Vorplatz hinab.
»Und meine
Schwestern?«, fragte er ängstlich.
»Die holen
wir auch noch«, beruhigte ihn die Frau, die natürlich eine gute Fee war.
»Und die
Mama?«
»Es ist
für alles gesorgt. Alles wird gut, glaub mir.«
An dieser
Stelle hatte er als Kind nie weitergewusst. Aber die beschworenen Bilder hatten
ihm stets aufs Neue so viel Trost geschenkt, dass er einzuschlafen vermochte.
Einmal,
ein einziges Mal, hatte er es gewagt, dem Edi davon zu erzählen. Der hatte ihn zuerst
nur so komisch angeschaut und dann, dann hatte der Edi, sein bester Freund, so hässlich
gelacht, dass er nie wieder jemandem von seinen Träumen erzählt hatte. Aber der
Edi war trotzdem sein bester Freund geblieben, lange Jahre noch. Auch als er selbst
ins Internat gekommen war, nach Bayern, und der Edi zu Hause geblieben war, logo,
und jeden Nachmittag nach der Schule auf dem Hof vom Stiefvater schuften musste.
Aber in den Ferien waren sie unzertrennlich gewesen, zwei Halbwüchsige, von frischen
blauen und grünlich gelb verblassenden Flecken gezeichnet. Mit dem Holzscheit hatte
der eine Vater zugeschlagen, der wenigstens nicht der richtige war, mit dem bloßen
Handrücken der andere. Aber sie hatten nie darüber gesprochen, die Scham war stärker
gewesen als die Wut. Und jetzt waren beide Väter tot, der Stiefvater vom Edi schon
lange, und sein eigener lag gerade …
Der Sog
eines entgegenkommenden Lasters brachte ihn beinahe ins Schleudern, plötzlich kam
er wieder zur Besinnung. Er fuhr ja wie in Trance, wann war er eigentlich von der
Autobahn auf die Bundesstraße abgebogen? Hof und Fuschl lagen bereits hinter ihm,
in weniger als 20 Minuten würde er den Kies vor dem Haus unter seinen Reifen prasseln
hören. Aber vorher musste er einfach noch einmal eine kurze Rast einlegen, einen
Kaffee trinken oder besser noch einen Schnaps, und sich den Kopf unters kalte Wasser
halten.
Auf dem
Parkplatz neben der Tankstelle kletterte gerade eine Ladung Japaner steifbeinig
aus dem Bus und begann sofort mit dem unvermeidlichen Geknipse. Er stapfte zur Toilette
und schaufelte sich ausgiebig eiskaltes Wasser ins Gesicht, die Hähne waren so idiotisch
tief angebracht, dass sein Kopf einfach nicht darunter passte. Ein kleiner Junge
starrte ihn mit großen Augen an, dann kam der Vater aus einer der Kabinen und musterte
ihn so misstrauisch, als ob er ein Kinderschänder auf Beutefang wäre, aber er war
zu müde, um sich zu rechtfertigen und dem Alten seine Meinung zu sagen. Müde und
waidwund, so fühlte er sich. Am liebsten hätte er sich auf die kleine Steinmauer
draußen vor der Cafeteria hingesetzt und geheult. Nicht wegen dem Vater, dem auf
der Toilette oder gar seinem eigenen, der tot und kalt irgendwo in einem Kühlregal
lag. Einfach so. Aber natürlich heulte er nicht, sondern ging in die Cafeteria und
bestellte sich einen Tee mit Schnaps und ein Käsebrot dazu. Den Tee trank er, das
Käsebrot ließ er stehen, plötzlich war ihm der kalte Schweiß ausgebrochen. Er legte
einen Schein auf die Theke, die Serviererin, die schon so kokett seine Bestellung
aufgenommen hatte, kam eiligst herangetrippelt, aber er winkte ab.
»Danke vielmals!«,
rief sie ihm nach. »Und einen schönen Tag noch!«
Zur Cafeteria
gehörte ein kleiner Supermarkt, in dem man Müsliriegel und
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