Blutiger Klee: Roman (German Edition)
nehmen sollen? Aber
die Bücher waren in der guten Stube gestanden und der Stolz der Eltern gewesen.
Sie nahm
vorsichtig das kleine Buch aus dem Regal und blies ein Staubkorn davon. So lange
hatte sie es nicht mehr in der Hand gehalten. Ihre Hand zitterte, aber das war gewiss
kein Wunder. Sie schlug den Deckel auf, die Seiten öffneten sich wie von Zauberhand
und da lag sie, eine gepresste Glockenblume, die tiefdunkelblau gewesen war, damals,
jetzt waren es nur mehr ein paar bräunliche Brösel und eine Ahnung von Stängel zwischen
zwei bedruckten Blättern. Sie holte so tief Luft, dass ihr die Brust weh tat. Alles
war wirklich gewesen, sie hatte nicht geträumt heute. Der See und das Dorf. Die
alten Bauernhöfe und die neuen Villen, die nach dem großen Krieg gebaut worden waren,
aus dem so viele nicht zurückgekommen sind. Das flirrende Licht und die Sonne und
die Regentage, barfuß war sie durch die Pfützen gelaufen. Die Einheimischen und
die ersten Touristen. Und die Juden.
*
Sie war 13 Jahre alt und stand bis
zu den Knöcheln im Wasser. Es schwappte und kräuselte sich, aber es konnte den Schmutz
nicht von ihren Füßen waschen. Bekümmert schaute sie auf die dunklen Flecken unter
der durchscheinend blauen Oberfläche, die ihre Zehen waren. Seit Juni hatte die
Mutter die Schuhe weggesperrt, nur am Sonntag wurden sie hervorgeholt und frisch
poliert und durften angezogen werden, für den Kirchgang.
Den Moritz
schienen ihre schmutzigen Füße nicht zu stören, zum Glück. Obwohl er selbst die
allerfeinsten Schnürschuhe trug, genauso wie seine kleine Schwester. Und im Winter
zu Hause in Wien trugen sie sogar Schuhe, die mit Pelz gefüttert waren. Sie hatte
es kaum glauben können, Pelz an den Füßen! Den trugen doch sonst nur die Herren
auf den Porträts in der Kirche, die eine Heiligenstatue gestiftet hatten oder ein
neues Altargewand aus Brokat für den Herrn Pfarrer. Die hatten Pelzkragen unter
ihren Gesichtern, die meist nicht allzu freundlich blickten. So war das.
Ein Schwarm
aus daumengroßen Fischen kam angeschossen und begann sich für ihre Zehen zu interessieren,
aber dann schwammen sie wieder davon. Sogar den Fischlein waren ihre Füße zu schmutzig.
Ob der Moritz
in diesem Sommer wieder kommen würde? Mit seiner kleinen Schwester? In das schöne
große Haus seiner Tante drüben beim Moos? Sie zog einen ihrer Zöpfe hinter dem Rücken
hervor und begann gedankenschwer an seiner geringelten Spitze zu knabbern. So vieles
war anders geworden in der letzten Zeit, so vieles hatte sich verändert. Aber sie
hatte keine Ahnung, warum. Die Erwachsenen tuschelten und wisperten, aber keiner
redete mit einem Kind, noch dazu einem Mädchen, das sowieso als viel zu neugierig
verschrien war. Frag nicht immer so viel, mach lieber deine Arbeit! Das bekam sie
zu hören, tagein, tagaus. Aber wenn man schon nicht mit ihr redete, dann musste
sie sich eben ihre eigenen Gedanken machen. Irgendetwas war anders. Manche schienen
so aufgeregt und erwartungsvoll, als ob morgen schon das Christkind kommen würde.
Doch ein paar andere – die viel weniger waren im Dorf – schlichen umher, als ob
sie Angst hätten, bloß wovor?
Gestern
Abend hatte sie beim Strümpfestopfen die Mutter gefragt. Nie hatte sie mit der Mutter
über den Moritz gesprochen, da war immer so eine Scheu gewesen, so eine Ahnung,
dass die Mutter das nicht gerne hören würde. Aber gestern hatte sie es einfach nicht
mehr länger ausgehalten. »Wird der Moritz mit seiner Familie auch in diesem Sommer
wieder kommen«, hatte sie die Mutter gefragt. Die hatte sich über einen alten Socken
vom Vater gebeugt und fast zornig den Wollfaden durch das riesige Loch an der Ferse
gezogen. Dann hatte sie gesagt: »Es wär besser für uns alle, wenn sie’s nicht täten.«
Und sie, die tapfere, neugierige Kathi, die höher kraxeln und weiter spucken konnte
als alle Buben, hatte sich nicht getraut, noch weiter zu fragen. Still waren sie
nebeneinandergesessen, bis die Mutter endlich das Nähzeug wegräumt hatte und in
den Stall hinausgegangen war.
Warum sollte
der Moritz besser nicht kommen? Sie hatte schon so lange darüber nachgegrübelt,
dass ihr richtig der Kopf wehtat. Irgendetwas hatte sich verändert. Ob es mit den
neuen Häusern am See zu tun hatte? Die nicht von den großen Bauern und nicht vom
Herrn Baron oben aus dem Schloss gebaut worden waren, sondern von reichen Leuten
aus der Stadt? Man sagte ja auch nicht mehr Haus oder Hof, sondern Villa dazu.
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