Blutiger Klee: Roman (German Edition)
sprengen würde. Und in diesem Augenblick war natürlich der
Pfarrer aus der Sakristei hereingekommen, das heißt, eigentlich hatte er sich herangepirscht
auf diesen leisen Sohlen von den warmen Filzpantoffeln. Einen Moment lang hatten
sie sich angeblickt, und er hatte diese irrwitzige Hoffnung gehabt, dass der Herr
Pfarrer etwas sagen, etwas erklären würde. Diese Verzweiflung von ihm nehmen, die
mit der Mutter zu tun hatte, mehr wusste er damals auch nicht. Aber der Pfarrer
hatte ihn nur gemustert und ihn dann mit einer einzigen Handbewegung hinausgewiesen,
hinaus aus der Bank mit den roten Polstern, hinaus aus der Kirche.
Nach diesem
Tag hatte er sich weigern wollen, am nächsten Sonntag in die Kirche zu gehen. Aber
das war dem Vater, dem Stiefvater, nicht einmal eine Antwort wert gewesen, nur eine
Tracht Prügel. Danach hatte er seinen Eigensinn aufgegeben, nicht wegen der Prügel,
die gehörten dazu wie das Stück Brot zur Suppe. Aber wenn er nicht parierte, dann
würde es als nächstes die Mutter zu spüren bekommen. Und damit hatte ihn der Stiefvater
immer und immer wieder in die Knie gezwungen. Bis er endlich mit dem Traktor umgekippt
war.
Er hätte
sich gerne ein wenig zurückgelehnt, heute, so viele Jahre danach. Aber die Knubbel
ließen nur ein verkrümmtes angestrengtes Sitzen zu. Wer sich so etwas hatte einfallen
lassen? So eine perfide Gemeinheit? Er konnte sowieso nicht mehr lange bleiben.
Gerade waren zwei Touristinnen vorbeigekommen und hatten ihn neugierig angestarrt,
den großen Mann in der Kirchenbank.
Ein paar
Herzschläge lang wollte er noch verweilen, vielleicht zum letzten Mal an diesem
Ort. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Denn es würde wohl nicht mehr lange dauern,
bis man ihn holen kam. Die Zeit verrann, die Zeit wurde knapp. Andere hätten sich
jetzt wohl Gedanken gemacht. Gebeichtet. Ein Testament abgefasst. Aber das war ihm
alles gleichgültig. Er hatte nie Wurzeln geschlagen, an keinem der Orte, an die
es ihn verweht hatte. Es gab nichts, woran sein Herz hing. Seine Beziehungen waren
zu Bruch gegangen und er hatte keine Kinder, wenigstens keine, von denen er wusste.
Beinahe hätte er aufgelacht in der Kirchenbank, als ihm dieser Gedanke durch den
Kopf ging. Aber es gab einen einzigen Menschen, mit dem er noch sprechen wollte.
Dann konnte ihn dieser Chefinspektor holen. Was dann kam, war nicht mehr wichtig.
*
Pestallozzi stand am Gang beim Kaffeeautomaten,
als der Anruf kam. Leo nahm ihn entgegen und lauschte, dann ging er kopfschüttelnd
den Chef suchen.
»Der Krinzinger
will dich sprechen. So wie der klingt, hat er eine neue Leiche entdeckt. Aber mir
wollte er um keinen Preis etwas Genaueres sagen. Er muss unbedingt mit dir sprechen.«
Pestallozzi
ließ den Becher im Automaten hängen und sprintete zu seinem Büro, dort nahm er den
Hörer auf und lauschte ebenfalls.
»Ah ja.
Natürlich, ich verstehe. Sehr gut gemacht, Kollege Krinzinger. Wir kommen sofort.«
Leo starrte
ihn mit großen Augen erwartungsvoll an, aber Pestallozzi schnappte sich schon sein
Jackett, das wie üblich über der Sessellehne hing. »Aufbruch! Du fährst!« Er griff
nach der schmalen Mappe, die er übers Wochenende aus dem Berg an Akten und Vernehmungsprotokollen
herausgefiltert hatte. »Endlich kommt Bewegung in die Sache! Leo, gib Gas!«
Leo schlug
die Hacken zusammen und stürzte nach nebenan, um ebenfalls in seine Jacke zu schlüpfen.
Dann rannte er noch einmal zurück und stopfte sich zwei Müsliriegel in die Innentasche.
Sie nahmen den Aufzug zur Tiefgarage und eilten zum Skoda, der hinter einem Mauerpfosten
von zwei Autos eingekeilt war, eines davon war eindeutig die dunkelblaue Limousine
vom Grabner. Aber zum Fluchen blieb keine Zeit, Leo manövrierte den Wagen aus der
Lücke und sie preschten die steile Ausfahrt zur Garage hinaus. Durch den zähen Mittagsverkehr
und über die Nonntaler Brücke, am Kapuzinerberg vorbei und endlich waren sie auf
der lang gezogenen Kurve, die steil bergan hinausführte nach Hof und Fuschl, nach
St. Gilgen und weiter nach Bad Ischl und Goisern, und noch weiter nach Hallstatt
und Bad Aussee. Aber so weit wollten sie ja gar nicht. Leo riskierte einen kurzen
Blick auf Pestallozzi, der neben ihm saß und zum Seitenfenster hinausblickte. Verdammt,
wann würde er endlich erfahren, was los war? Manchmal konnte einem der Chef mit
seinem versponnenen nachdenklichen Getue ganz schön auf die Eier gehen.
An einem
Zebrastreifen knapp hinter Hof machte sich ein
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