Blutiger Klee: Roman (German Edition)
aufhören, ja?«
Sie drückte
auf den roten Knopf an ihrem Handy, bevor ihr Ex noch einmal zu Wort kommen konnte.
Geschafft. So müde und erledigt fühlte sie sich nicht einmal, wenn sie zwölf oder
fünfzehn Stunden im Seziersaal verbracht hatte. Oder noch länger. Wie damals, nach
dem entsetzlichen Unglück im Tunnel von Kaprun. Als ein simples Heizgerät in der
Gletscherbahn Feuer gefangen und 155 Menschen getötet hatte, die meisten davon waren
Kinder und Jugendliche gewesen. Kinder und Jugendliche, die zum Skifahren aufs Kitzsteinhorn
wollten. Rund um das Institut hatte es damals ausgesehen wie im Krieg, mit schwarzen
Planen war das Gelände abgeriegelt worden. Und dann waren die Leichensäcke mit den
verbrannten Überresten gekommen und die Eltern hatten draußen gewartet, die meisten
ganz starr vor Kummer, und alle hatten sie diese verzweifelte Hoffnung gehabt, dass
ihr Kind nicht dabei sein würde. Das ganze Team hatte wochenlang rund um die Uhr
gearbeitet, Zahnabdrücke und Haarproben verglichen, verbranntes Fleisch untersucht
und Knochen zugeordnet. Es war das größte Unglück des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg
gewesen und war es immer noch. Jedes Mal, wenn sie bei der Identifizierung eines
Leichensackes ›erfolgreich‹ gewesen waren – was für ein bitteres Wort in diesem
Zusammenhang – dann hatte jemand hinausgehen und es den Angehörigen beibringen müssen.
Diese Wochen hatten ihr Leben verändert. Als sie ans Institut gekommen war, war
sie unsicher gewesen, ob sie nicht lieber doch auf eine andere Fachrichtung umsatteln
sollte. Aber nach Kaprun war alles anders gewesen. Am schlimmsten für die Familien
war die Ungewissheit, das hatte sie damals begriffen. Wie ist mein Kind gestorben,
Frau Doktor? Bitte sagen Sie es mir. Ist das wirklich mein Mann, kann ich sicher
sein? Die Toten hatten ein Recht auf den Namen, den sie im Leben getragen hatten.
Und auf die Klärung, wie sie gestorben waren. Um das ›warum‹ mussten sich andere
kümmern. Artur zum Beispiel.
Sie sah
auf das Messer, das eingetütet auf ihrem Schreibtisch lag. Die Blutspuren hatten
für eine Bestimmung nicht ausgereicht. Aber der Vergleich mit dem Stichkanal im
Bauch des Opfers hatte eine eindeutige Übereinstimmung ergeben. Ob Artur den Täter
finden würde? Sie musste ihm unbedingt noch die Ergebnisse ihrer Nachforschungen
zu dieser seltsamen Krankheit mailen, die bei den Gleineggs offenbar immer wieder
ausbrach. Hoffentlich konnte sie ihm wenigstens ein wenig helfen! Alle sahen ihm
auf die Finger und warteten auf ein rasches Ergebnis, sie beneidete ihn nicht um
den Job. Artur Pestallozzi galt als hervorragender Kriminalist, aber er hatte sich
mit seiner distanzierten Art sehr wohl auch Feinde gemacht. Ihre Freundinnen hatten
sie schon so oft mit ihm geneckt, ganz besonders, seitdem sein Bild zum ersten Mal
in den Zeitungen aufgetaucht war. Du kennst wirklich diesen attraktiven Typ von
der Kripo? Also ganz ehrlich, Lisa, den würden wir nicht von der Bettkante schubsen.
Aber sie hatte jedes Mal ganz verlegen und unwillig abgewehrt. Sie mochte Artur,
sehr sogar. Aber mehr … mehr konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Sie arbeiteten
schon so lange zusammen, hatten sich gemeinsam über aufgedunsene Wasserleichen und
zerstückelte Gliedmaßen gebeugt. Über Kinder, die missbraucht und getötet worden
waren, das Schlimmste von allem. Und dann sollten sie auf einmal miteinander flirten?
Das erschien ihr einfach unvorstellbar, sie konnte es ihren Freundinnen nicht klarmachen.
Ob Artur jemanden hatte, mit dem er sich so richtig aussprechen konnte? Na ja, immerhin
hatte er Leo, seinen Assistenten, diesen ulkigen Kerl. Und sie selbst, wen hatte
sie, wenn sie deprimiert und ausgepowert nach Hause kam? Mit ihren zwei, drei besten
Freundinnen durfte und wollte sie nicht darüber sprechen, was sie tagsüber am Institut
erlebt hatte. Und ihren Kindern musste sie ein fröhliches Gesicht zeigen, unbedingt!
Miriam und Max bekamen sowieso immer wieder dumme Bemerkungen über den Beruf ihrer
Mutter zu hören. Deine Mutter schneidet wirklich Leichen auf? Also pfui, igitt!
An manchen
Abenden sehnte sie sich so sehr danach, dass jemand da wäre, einfach zum Anlehnen.
Der sie in die Arme nahm und festhielt, bis all die Bilder in ihrem Kopf weggespült
wären. Wenigstens bis zum nächsten Morgen. An einem solchen Abend hatte sie sich
einmal an den Computer gesetzt und bei einer der Partnerschaftsbörsen eingeloggt,
die ständig auf ihrem
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