Blutiger Klee: Roman (German Edition)
»Sein Großvater Moritz Blau und dessen kleine
Schwester Rachel sind im letzten Moment aus Wien entkommen, mit einem Kindertransport.
Die Eltern und alle anderen Verwandten sind vergast worden. Der Moritz und die Rachel
haben dann die übliche Odyssee absolviert, über die Schweiz und Frankreich nach
Spanien, dann weiter nach England und von dort nach Amerika. Jede von diesen Lebensgeschichten
klingt so unglaublich, die ganzen Horrorblockbuster von heute sind einfach lächerlich
dagegen. Jedenfalls, der Großvater vom Liam ist vor einigen Jahren gestorben. Er
hat damals nach dem Krieg studiert und ist Arzt geworden und hat sich in Seattle
niedergelassen. Dort lebt die Familie heute noch. Und all die Jahre hat er immer
wieder von den Sommerferien am See erzählt, im Haus seiner Tante. Und von der Kathi,
mit der sie damals gespielt haben. Und diese Kathi hat der Liam vorgestern besucht.
Er hat mir nichts davon erzählt, vorher. Der Liam ist ein bisschen ein Eigensinniger.«
Sie lächelte. »Er hat nur gewusst, dass die Jugendfreundin seines Großvaters Katharina
heißt und eine sehr alte Frau sein muss. Dann ist er aufs Gemeindeamt gegangen und
hat nachgefragt. Und es hat sich herausgestellt, dass nur eine einzige Frau im Ort
lebt, auf die das zutrifft. Die zwei anderen Kathis waren viel zu jung.«
»Katharina
Luggauer«, sagte Pestallozzi langsam. Er sah die alte Frau vor sich, die einmal
ein bildschönes junges Mädel gewesen sein musste, er konnte sich noch gut an seinen
ersten Eindruck erinnern, als er sie damals gesehen hatte, in der Küche vom Loibner-Hof.
Traudl Liebermann
sah ihn verblüfft an. »Sie kennen sie?«
Er nickte.
»Eine bemerkenswerte Frau.«
»Das hat
der Liam auch gesagt. Er war fast den ganzen Nachmittag bei ihr. Der Liam spricht
ja nur wenig Deutsch, offenbar haben sie mit Händen und Füßen geredet und sich alte
Fotos gezeigt. Es muss sehr schön gewesen sein. Nur am Abend war ihm ein bisschen
schlecht, weil er so viel Nusskuchen gegessen hat.«
»Das Gefühl
kenne ich«, sagte Pestallozzi.
Sie lachten
beide. Dann sahen sie wieder zu den jungen Leuten hinaus. Der junge Mann packte
gerade die Teller der anderen voll, er lachte, seine langen dunklen Haare kringelten
sich auf den Schultern und um das erhitzte Gesicht. Liam, der Enkel von Moritz Blau,
sah aus wie ein Rockstar.
»Ich danke
Ihnen sehr für das Gespräch«, sagte Pestallozzi und stand langsam auf. Er wäre gerne
noch sitzen geblieben und hätte mit Traudl Liebermann geplaudert. Einfach so. Sie
hatten ein Gespräch voller Klippen geführt und es ohne Aggression und Schuldzuweisungen
gemeistert. Aber Leo wartete auf ihn, bei der Kathi Luggauer, die so einen unglaublichen
Besuch bekommen hatte. Hoffentlich verkraftete das Herz der alten Frau all die Aufregungen
der letzten Zeit.
Sie erhob
sich ebenfalls. »Kann ich davon ausgehen, dass alle Fragen geklärt sind?«
»Das können
Sie.«
Sie gingen
langsam nach draußen. Er dachte nach, dann holte er seine Brieftasche hervor und
kramte nach der letzten verschmuddelten Visitenkarte. »Wenn Sie wieder einmal in
Salzburg sind und vielleicht Hilfe brauchen, dann rufen Sie mich doch an.«
Sie nahm
die Karte und lächelte. Traudl Liebermann war nicht der hilfsbedürftige Typ, er
hätte sich auf die Zunge beißen können. Er war so ein Tollpatsch!
»Vielen
Dank, Herr Pestallozzi. Ich komme gerne darauf zurück.«
Er verabschiedete
sich und ging an den jungen Leuten vorbei. Ein paar drehten sich um und sahen ihn
neugierig an, offenbar hatten sie über ihn gesprochen. Liam grinste ihm zu und schwenkte
einladend die Grillzange mit einem Würstchen. Pestallozzi lachte zurück und hob
bedauernd die Arme. Was für ein netter Kerl das doch war.
Er nahm
den Weg durch den Park und rund ums Haupthaus direkt zur Straße. Pestallozzi verspürte
wenig Lust auf einen Plausch mit Hotelvizedirektor Blücher. Er wollte gerade zum
Auto gehen, aber dann blieb er stehen. Auf der Mauer gegenüber vom ›Kaiserpark‹
saß Leo mit verspiegelter Sonnenbrille und über der Brust gekreuzten Armen und sah
finster drein. Spielende Knirpse betrachteten ihn respektvoll aus sicherer Entfernung.
Pestallozzi
machte eine Kehrtwendung und ging über den Platz. »Ich habe gedacht, du bist bei
der Kathi Luggauer?«
»Die war
nicht zu Hause!«
»Aha.«
»Aber ich
habe bei ihrer Nachbarin geklingelt. Und bei der habe ich so einiges erfahren.«
Leo nahm endlich die verspiegelte Brille ab und sah nun deutlich
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