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Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Titel: Blutiger Klee: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Faro
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selbstzufrieden
aus.
    »Und, weiter?«
    »Die Luggauer
hat vorgestern am Nachmittag Besuch bekommen. Von einem jungen Mann, der ziemlich
wild ausgeschaut haben soll. Er soll eine Ähnlichkeit gehabt haben mit …« Leo senkte
die Stimme, Pestallozzi musste ein Grinsen unterdrücken. Er wusste, was jetzt kommen
würde. »… dem Raffael Gleinegg, sagt die Nachbarin. Weil der hat auch so lange Haare
gehabt, bis auf die Schultern. Und er ist fast drei Stunden lang geblieben. Wie
er gegangen ist, hat er sich noch bis zur Straße runter umgedreht und immer wieder
zurückgeschaut und gewunken.«
    »Dann wäre
der Fall ja gelöst«, sagte Pestallozzi.
    Leo sah
schlagartig drein wie ein junger Dackel, dem ein Malheur auf dem Wohnzimmerteppich
passiert war.
    »Das habe
ich doch gar nicht behauptet. Ich berichte nur, was die Nachbarin gesagt hat.«
    Pestallozzi
seufzte unhörbar. Er würde Leo auf der Heimfahrt von seinem Gespräch mit Traudl
Liebermann erzählen. Aber vorher wollte er noch ein paar Schritte am Wasser machen.
Dann mussten sie zurück in die Stadt, der Professor für Haut- und Geschlechtskrankheiten
war ein viel beschäftigter Mann und würde bestimmt nicht warten.
    »Lass gut
sein, Leo«, sagte Pestallozzi. »Komm, wir drehen eine kurze Runde.«
    Sie gingen
schweigend die Uferpromenade entlang, wo ihnen beim letzten Mal der junge Gleinegg
und seine Cousine entgegengekommen waren. Je näher sie zum Kurpavillon kamen, desto
deutlicher wurde die Musik, die durch das Schnitzwerk seiner filigranen Wände klang.
Die Ortskapelle probte offenbar für ein Konzert am Sonntag, das auf rosafarbenen
Plakaten auf allen Alleebäumen angekündigt war. Sie blieben stehen und lauschten,
Pestallozzi hatte den Kopf leicht schief gelegt. Leo scharrte mit den Füßen das
Erdreich vor dem Pavillon auf, wo am Sonntag die Klappsessel stehen würden. Falls
es nicht regnete, wie so oft am Sonntag.
    »Das klingt
ja wie Mafiamusik«, sagte Leo nach einer Weile. »Wie beim Begräbnis von so einem
Paten.«
    »Das ist
Schostakowitsch«, sagte Pestallozzi. »Und die spielen richtig gut.«
     
    *
     
    Still war die Welt. Draußen fuhr
ein Auto vorbei, dann verlor sich das Geräusch in der Ferne. Und in der Wohnung
nebenan war ein leises Klappern zu hören wie von Töpfen, die jemand in ein Küchenkastl
schichtete. Der alte Herr Tichy. Immer wenn im Fernsehen Berichte über glitzernde
Charity-Galas liefen, mit ihren lächerlichen ›Awards‹ für aufgebrezelte Fußballergattinnen
und einem Drumherum auf dem roten Teppich, das mehr kostete als ein Kindergarten
in Bangladesch, dann musste Pestallozzi an seinen Nachbarn denken. Der pflegte seit
Jahren seine bettlägrige demenzkranke Frau, obwohl er selbst schon über 80 war.
Einmal am Tag kam eine Pflegerin von der Stadt und half ihm beim Umdrehen und Waschen,
beim Windelwechseln. Die übrige Zeit war der alte Mann alleine und kochte und wusch
und ging einkaufen. Manchmal begegneten sie einander im Stiegenhaus und nickten
sich zu. Pestallozzi hatte dann immer ein schlechtes Gewissen, weil er nicht stehen
bleiben konnte, um mit dem alten Mann ein paar Worte zu wechseln. Sondern meist
schon auf dem Sprung zum nächsten Fall war.
    Still lag
die Welt. Nur der Computer summte, sein Bildschirm leuchtete wie eine blaue Lagune
im Dunkel. Pestallozzi saß da und starrte auf die Tastatur hinab, deren Zeichen
kaum zu erkennen waren, aber er mochte noch nicht die Schreibtischlampe aufdrehen.
Er sah die Bank vor sich, vor der er gestanden war, vor bald zwei Wochen. Morgen
würde der Leichnam freigegeben werden für das Begräbnis, das ein Spektakel allerersten
Ranges zu werden versprach, mit Prominenz aus nah und fern. Dann würde der alte
Gleinegg wieder auf allen Titelseiten prangen, eingebettet in Reportagen voll schauerlicher
Details zum Mord. Und alle würden nach dem Mörder fragen, die Zeitungen, die Familie,
der Grabner.
    Die Gesichter
zogen an ihm vorbei wie in einem traurigen Panoptikum. Die alte Kathi Luggauer,
bei der so viele Fäden zusammenliefen, auch wenn sie ganz bestimmt nicht direkt
in die Geschichte verwickelt war. Ihre Nichte Anna, die so traurig aussah, besonders,
wenn vom jungen Gleinegg die Rede war. Der ›junge‹ Gleinegg, der doch gar nicht
mehr so jung war. Ab sofort war er der nächste ›alte‹ Gleinegg, in diese Familien
war man eingeschmiedet wie das Glied einer Kette, unentrinnbar. Die Schwestern,
allen voran die Henriette Gleinegg mit ihrer Selbstsicherheit, die sie wie ein

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