Blutiger Klee: Roman (German Edition)
perfekte Gastgeberin.
Sie setzte sich, dann nahm auch Pestallozzi Platz. Die Frau ihm gegenüber wurde
ernst.
»Es gibt
doch hoffentlich keine Probleme?«
Sie erinnerte
Pestallozzi plötzlich an den schönen weißen Schwan mit den funkelnden Augen unten
am See, der seine Flügel ausgebreitet und gefaucht hatte wie ein Drache, als er
den flauschig grauen Jungen mit einem unbedachten Schritt zu nahe gekommen war.
»Nicht im
geringsten. Aber es hat hier in diesem Ort vor kurzem einen Mordfall gegeben und
deshalb …«
»Und deshalb
ist man auf uns gekommen«, sagte die Frau bitter. »Der Gleinegg, ich weiß. Und was
glauben Sie jetzt? Dass einer von diesen Jungen da …« Sie deutete auf die Burschen
auf dem grünen Rasen.
»Das denkt
niemand, bitte, glauben Sie mir, Frau Liebermann! Aber wir müssen einfach jedem
kleinsten Hinweis nachgehen und nachfragen, ob es Zusammenhänge gibt, oder ob jemandem
irgendetwas aufgefallen ist. Wann sind sie eigentlich genau hier angekommen?«
»Am 25.
Vorher waren sie in Wien. Die Gruppe ist vor zehn Tagen in Amsterdam gelandet. Dann
waren sie eine Woche lang in Holland unterwegs, dann in Wien, und der Aufenthalt
hier ist als Urlaub und Entspannung gedacht zwischen den vielen Besichtigungen und
Treffen. Morgen geht es über München und Düsseldorf weiter nach Paris.«
Am 25.!
Und der Mord am Gleinegg war am 23. gewesen! Pestallozzi fühlte, wie der Zorn in
ihm hochstieg. Auf den Grabner und die ganzen Wichtigtuer in Wien. Eine eigene Sitzung
hatte es gegeben, im allerkleinsten Kreis! Und dabei waren nicht einmal die simpelsten
Tatsachen geklärt worden! Und er musste jetzt da sitzen und dieser Frau in die Augen
schauen und darin lesen, was sie, völlig zu Recht, dachte. Die Verdächtigungen hörten
nie auf.
»Der besagte
Vorfall hat am 23. stattgefunden«, sagte Pestallozzi. »Es tut mir sehr leid, dass
ich Sie belästigt habe.«
Sie schwiegen
und sahen beide zu den jungen Leuten hinaus.
»Von denen
will keiner irgendetwas zurückhaben oder Rache nehmen«, sagte Traudl Liebermann
nach einer Weile. »Die kommen, weil sie sehen wollen, wo ihre Familien her sind.
Oft haben sie nur ein zerrissenes Foto dabei oder eine Adresse, die es gar nicht
mehr gibt. Das ›Jewish Welcome Service‹ betreut ja vor allem alte Menschen, die
noch einmal die Stadt sehen wollen, in der sie geboren worden sind. Ich arbeite
dort mit, ehrenamtlich. Und dann habe ich gehört, dass immer öfter die Jungen kommen,
auf den Spuren ihrer Großeltern. Seither kümmere ich mich ein bisschen um diese
Gruppen, wenn es meine Zeit erlaubt. Ich gehe mit ihnen mit, wenn sie wissen wollen,
ob es die Wohnung überhaupt noch gibt, in der ihre Familie einmal gelebt hat. Oder
die Schule oder die Synagoge. Sie glauben ja nicht, welche Reaktionen das auslöst.
Wie oft ich schon dabei war, wenn uns die Wohnungstür einfach vor der Nase zugeschlagen
worden ist. Weil die Leute so erschrecken oder so eine Angst haben, dass man ihnen
doch noch etwas wegnehmen könnte, nach so vielen Jahren. Manche schämen sich wahrscheinlich
auch nur viel zu sehr für ein Gespräch. Und dann gibt es solche, die sind einfach
freundlich und bitten uns herein, und dann sitzt man am Tisch, und alte Fotoalben
werden geholt. Das sind dann sehr schöne Momente.«
»Hat es
hier am See irgendwelche Kontakte gegeben?«
»Wie gesagt,
hier steht eigentlich nur Erholung auf dem Programm. Sightseeing in Salzburg, Mozart
und die Trapp-Family. Edelweiß, Edelweiß.« Sie lachte. »Die Julie Andrews im Dirndl
kriegt einfach kein Amerikaner mehr aus dem Kopf.« Dann wurde sie wieder ernst.
»Und das ehemalige KZ am Traunsee haben wir besichtigt.«
»Sonst hat
es keine persönlichen Gespräche mit Einheimischen gegeben? Ich denke jetzt wirklich
nicht an den Gleinegg-Fall.«
Sie zögerte.
Zwei junge Männer kamen vorbei und liefen die Treppe hoch, sie nahmen jeweils drei
Stufen mit einem Satz. Dann war oben Gelächter zu hören und das unbekümmerte Zuschlagen
von Türen. Pestallozzi fühlte sich ein bisschen wie in einer Jugendherberge, jedenfalls
gefiel es ihm hier sehr viel besser als drüben im aufgemotzten ›Kaiserpark‹-Haupthaus.
Traudl Liebermann
sah wieder zu den jungen Leuten auf der Wiese, die sich nun fast alle um den Grill
versammelt hatten. Ein junger Mann stand mit glühenden Wangen direkt vor dem Rost
und wendete die Fleischstücke und Kartoffelscheiben, die Mädchen sahen alle zu ihm
auf.
»Das ist
der Liam«, sagte Traudl Liebermann.
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