Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
gefärbten und hohl gewölbten Butzenscheiben ließen nur einen verschwommenen Blick auf die andere Seite zu. Eine Hand betastete den Nussbaumrahmen von der Außenseite und prüfte die Stabilität der Fenster. Das feine, kaum hörbare Knarren, als das Fenster sich unter dem Druck bog, wurde von den ewigen Geräuschen des arbeitenden Plankenholzes geschluckt. Ein einziger, säuberlich polierter Messinghaken an der Innenseite verhinderte, dass das Fenster aufsprang.
Eine zweite Hand, größer und fülliger als die erste, erschien am Fenster. Der zweite Versuch, das Fenster zu öffnen, riss die Öse des Messinghakens aus der dünnen Holzverkleidung. Sie fiel auf den gewachsten Holzboden, klingelte einmal schrill wie eine höfische Tischglocke und landete dann stumm auf dem dünnen Teppich, der die Szenerie einer Seeschlacht darstellte. Behutsam drückte jemand das Fenster auf, und zwei Hände klammerten sich an den Rahmen.
Cindiel schob ihren Oberkörper durch das kleine Fenster und stützte sich mit den Händen auf der Lehne eines Stuhls ab, der direkt vor ihr stand. Die große schemenhafte Hand hinter ihr versuchte, Hilfestellung zu geben, und drückte gegen ihr Hinterteil. Mit erschrockenem Gesicht löste die Hexe eine Hand und presste sie eilig an ihrem Körper vorbei wieder nach draußen, um dann energisch nach der Hand zu schlagen, die drohte, sie ungebührlich zu betatschen. Fast akrobatisch schlängelte sie sich komplett durch die Öffnung und ins Innere der Kapitänskajüte. Bevor sie das Fenster hinter sich schloss, warf sie einen strafenden Blick hindurch nach unten.
Das bernsteinfarbene Licht einer Öllampe ließ die Kajüte warm und gemütlich aussehen. Gleich auf dem Beistelltisch neben dem Fenster fiel Cindiel ein gebogener, blank polierter Drachenzahn auf. Er war auf einer runden Holzscheibe angebracht. Darunter hatte man eine Bronzeplatte mit einer Gravur befestigt. Leider reichte das Licht nicht aus, um den Schriftzug zu entziffern.
In der Kajüte eines Kapitäns gab es allerhand Sehenswertes, das so manchen Dieb angelockt hätte. Souvenirs von weiten Reisen, Schmuckstücke und Tuch aus fernen Ländern oder seltene, edle Weine konnten einen Langfinger schwach werden und ihn die Gefahren des ungesicherten Rückweges vergessen lassen. Cindiel war jedoch keine Diebin, und außer einem neugierigen Blick hatte sie kein Verlangen nach den Kostbarkeiten. Ihr Interesse galt allein dem Kapitän oder besser gesagt, seinem Schiff.
Kapitän Londor lag in seiner Koje, eingehüllt in einen Wulst aus Decken, Tüchern und Kissen. Außer einem schwarzgrauen Schopf, mit einer kahlen Stelle am Hinterkopf, und dem herausgestreckten Hinterteil des Kapitäns war nichts von ihm zu sehen. Londor schlief in voller Montur, wofür Cindiel dankbar war. Der wahre Grund für des Kapitäns Schlafgewohnheit erschloss sich ihr nicht. Sei es aufgrund des überraschend kühlen Wetters oder der Einfall der Oger in Sandleg, der dafür verantwortlich war, Hauptsache, er war bekleidet und ihr blieb eine peinliche Szene erspart.
Die junge Hexe strich ihren neuen Umhang glatt. In Sandleg hatte sie ein Pfandhaus gefunden, das genügend Kleidungsstücke anbot, um sich aus ihrer Stallburschenkluft zu befreien. Sie hatte einige Schwierigkeiten, den Pfandleiher - ein Mann namens Minod Linners - dazu zu bewegen, den Laden bei nachtschlafender Zeit zu öffnen. Zum Glück begleitete Gnunt sie, der so freundlich gewesen war, sich am oberen Fenster zum Schlafgemach von Minod bemerkbar zu machen. Cindiel konnte nicht genau sagen, ob Minod die Tür nicht eher geöffnet hatte, um in Panik aus dem Haus zu fliehen, aber als Gnunt ihn an seinem Umhang festhielt, wurde er plötzlich einsichtig. Er hatte ihr bereitwillig eine Reihe von Beinkleidern, Oberteilen und Umhängen sowie Schuhen gezeigt, und Cindiel hatte sich das Passende herausgesucht.
Der Umhang war besonders nach ihrem Geschmack: Aus schwerem Stoff, gut verarbeitet und in einem dunklen Blau, sah er aus wie neu. Minod hatte ihr erzählt, dass er von einer jungen Dame gebracht worden war, die von ihrem Liebsten verlassen wurde und sich deshalb auch von dem Umhang und einigen anderen Geschenken trennen wollte. Cindiel war sich sicher, dass alle ihre neu erstandenen Kleidungsstücke von ein und derselben Person stammten, die kleine Größe und der gute Zustand des Stoffes waren nur selten in einem Geschäft wie Minods zu finden. Als kleines Extra hatte ihr der Händler noch ein Kopftuch
Weitere Kostenlose Bücher