Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
es in ihren Augen, und er glaubte es an ihrem Schweiß riechen zu können. Unschlüssig standen sie vor ihm und betrachteten Schloss und Kette um seine Gelenke aus der Ferne.
»Wir nehmen dich jetzt mit«, erklärte einer von ihnen und stieß seinen Kameraden an, damit er Gnunt von den Ketten befreite. Der, auf den die Wahl gefallen war, schien am jüngsten zu sein. Sein unrasierter Bart war mehr eine Art Flaum, der nicht ganz durchgängig seine Mundpartie verdeckte. Zögerlich tastete der Mann sich vorwärts, die Spitze der Hellebarde auf Gnunt gerichtet. Je näher er kam, desto klarer wurde, dass die Stangenwaffe wenig geeignet war, so nah an einen Feind heranzutreten.
Gnunt fühlte sich wenig bedroht und erst recht nicht wie ein Feind. Seine Gefangenschaft war gewollt, auch wenn das die Hüttenbauer nicht so sahen. Trotzdem hatten sie ihn bislang besser behandelt, als er befürchtet hatte. Die Hand des jungen Soldaten wanderte am Schaft der Hellebarde immer weiter nach vorn, bis der hintere Teil der Waffe in seinen Fingern so schwer wurde, dass die Spitze sich nach oben neigte. Gnunt konnte nicht mit ansehen, wie sich der zitternde Junge abmühte, und schob vorsichtig den Fuß unter das Ende der Stangenwaffe, um sie zu entlasten. Der Junge war so aufgeregt, dass er es gar nicht bemerkte. Mit unheilvoller Miene zerrte er am Schloss der Ketten herum, um sie zu lösen, doch auch dies wollte mit einer Hand nicht gelingen. Auch hierfür fand Gnunt eine passable Lösung: Langsam hob er seine Hand und präsentierte voller Stolz den herausgerissenen Dorn aus der Wand. Der Kopf des jungen Mannes flog zwischen dem daumendicken Loch in der Wand, dem herausgerissenen Dorn und Gnunts grinsendem Gesicht hin und her, als ob ihn eine Salve Ohrfeigen getroffen hätte. Er brüllte auf, ließ vor Schreck seine Waffe fallen, taumelte rückwärts und stürzte zu Boden. Mit den Füßen trat er auf Gnunt ein, um sich weiter zurückzuschieben, landete dabei auf dem Bauch und rettete sich zwischen seine Kameraden, die ihm wieder aufhalfen.
»Er hat sich losgerissen«, schrie er. »Schnell, schließt die Tür!«
Die anderen waren sofort zur Stelle und sprangen mit gezückten Waffen vor. »Bleib, wo du bist, sonst spießen wir dich auf«, drohte ein anderer.
Gnunt saß immer noch auf dem Boden, den saubergeleckten Teller in der Hand.
»Was ist hier los?«, fragte der Kerkermeister und betrat die Zelle.
»Er hat sich losgerissen«, wiederholte der Soldat stotternd.
»Das Gemäuer ist alt«, knurrte der Kerkermeister. »Die ewige Feuchtigkeit und das kalte Wetter lassen den Stein spröde werden. Er hat sich nicht losgerissen, die Verankerung hat einfach nur nachgegeben. Wovor habt ihr Angst? Er ist ein Oger. Jahrelang habt ihr ihnen zugejubelt, wenn einer von ihnen in die Stadt kam. Sie waren unsere Freunde, habt ihr das vergessen?«
Einer der Soldaten tippte dem Alten mit der Spitze seiner Hellebarde auf die Brust.
»Wenn du dir so sicher bist, kannst du ihn ja losmachen«, sagte er.
Der Kerkermeister kam auf Gnunt zu und zog den geschmiedeten Schlüsselring von seinem Gürtel. Er ließ ihn vor sich baumeln und beäugte die verschiedenen Schlüssel. Dann griff er nach dem größten, ging vor Gnunt in die Hocke und schloss auf.
»Ihr seid mir vielleicht ein Haufen von Memmen. Was macht ihr, wenn ihr abends in den Straßen Wache lauft? Scheucht ihr kleine Kinder und alte Frauen zurück in die Häuser? Da können wir ja froh sein, dass uns die Oger den roten Marmor nur verkauft haben und nicht damit vor den Stadtmauern gestanden haben, um Katapulte zu beladen.«
Der Kerkermeister erklärte Gnunt, dass die Wachen ihn jetzt zu dem Hohepriester Tyvell bringen würden, damit er seine Fragen an ihn stellen konnte. Der Alte ging voraus, und Gnunt folgte ihm. Hinter ihnen liefen die Wachen und passten auf, dass der Oger nicht wieder zurück in seine Zelle flüchtete, wie es der Kerkermeister höhnisch ausdrückte. Wieder drängte sich Gnunt durch den schmalen Treppengang hinauf zu dem großen Platz auf dem Kasernenhof. Oben angekommen, verabschiedete sich der Kerkermeister.
»Zugegeben, ich war nie ein großer Freund der Oger, doch was Unrecht war, bleibt Unrecht. Bestimmt habe ich keinen Ruhm auf dem Schlachtfeld erlangt, doch auch die Gesetze des Kerkers haben Grenzen. Ich bringe jemanden zum Sprechen, und ich glaube, dass ich Lord Felton im Laufe der Jahre gute Dienste geleistet habe. Ich habe Männer gebrochen, ihnen die Ehre und
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