Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
breite Fensterfront auf einer Seite der Halle zeigte hinaus auf einen Friedhof. Die Begräbnisstätte war keine von denen, die Gnunt schon so oft gesehen hatte. Normalerweise lagen sie außerhalb von Ortschaften, in kleinen Waldgebieten oder auf Hügeln. Die Gräber erkannte man an länglichen Erdhügeln, die meist mit Kreuzen oder Steinplatten gekennzeichnet waren. Auf diesem Friedhof fanden sich kleine Gebäude aus Stein und Statuen, die über die Toten zu wachen schienen. Mogda hatte ihm von solchen Friedhöfen berichtet. Er hatte ihm erklärt, dass die Größe eines Grabes nichts mit der Größe der Person zu tun hatte, die in ihm lag. Auch ganz kleine Hüttenbauer konnten in großen Steingräbern beerdigt sein. Er sagte, es käme nur darauf an, wie wichtig diese Menschen gewesen waren.
Gnunt nahm an, dass diese Hüttenbauer hier wohl die wichtigsten Menschen in ganz Osberg gewesen sein mussten. Er vermutete, dass dort Schmiede, Schlachter und die Erbauer der steinernen Hütten zu Grabe getragen wurden.
»Bringt ihn her und kettet ihn an die Ringe«, rief einer der Männer in den blauen Ornaten von hinten.
Gnunt war zu weit entfernt, um die Priester genauer zu erkennen. Für ihn sahen die Kleriker des Priosordens ohnehin alle gleich aus. Die meisten von ihnen waren alte Männer mit ergrauten Haaren und finsteren Mienen. Gnunt mochte sie nicht; schon bevor sie zu den Fahnen gerufen hatten, empfand er sie als überheblich und falsch. Schon zu oft in seinem Leben hatte Gnunt sich täuschen lassen. Diesmal fiel er nicht auf sie herein. Argwöhnisch betrachtete Gnunt die Bronzebecken mit den glühenden Kohlen. Die Soldaten zogen die Kette, die seine Handschellen mit den Fußfesseln verbanden, durch die eisernen Ringe. Sie breiteten seine Arme aus und ketteten seine Füße zusammen.
Gnunt suchte den Raum nach einer offen stehenden Tür ab, doch der einzige Zugang zu der Halle war das Portal in seinem Rücken. Wie sollte er flüchten, wenn er nicht wusste, wann und wohin? Außerdem war die Kette zu stark, um sie zu zerreißen, und die Priester wären nicht so dumm, ihn loszumachen. Gnunt begann an den Worten des dünnen Mannes zu zweifeln. Hatte er ihn belogen, um ihm Geheimnisse zu entlocken?
Betretenes Schweigen erfüllte den Raum, derweil die Wachsoldaten die Halle verließen. Gnunt fühlte sich mehr als nackt, so angekettet und von düsteren Blicken angestarrt. Die Kleriker am Tisch beäugten ihn eine Weile stumm, blieben jedoch an dem dunklen schweren Eichentisch sitzen. Gnunt hörte, wie die beiden Kapuzenmänner hinter ihm die Kohlen in den Bronzeschalen wendeten und neue hinzugaben. Tiefe Traurigkeit überkam ihn. Er wollte alles richtig machen. Der dünne Mann hatte ihnen immer geholfen. Was mochte den Spion Lord Feltons dazu veranlasst haben, sein Wort zu brechen und ihn in diese Falle zu locken? Konnte man denn keinem Menschen trauen?
Gnunt mochte die Hüttenbauer. Ihre quirlige Art und die ganzen Dinge, die sie ständig erfanden, beeindruckten ihn. Sie errichteten diese wunderbaren großen Städte, in denen sie zusammenlebten, und einer sorgte für den anderen. Hüttenbauer waren klein und schwach, doch durch ihren Zusammenhalt schienen sie fast unbesiegbar. Bei den Kreaturen Tabals gab es keinen Zusammenhalt - lediglich Gehorsam oder Sklaverei. Gnunt hätte es nie jemandem erzählt, doch er beneidete die Hüttenbauer. Warum nur waren sie so getrieben vom Hass auf seinesgleichen? Die Oger hatten versucht friedlich mit ihnen zusammenzuleben. Beide Völker hätten viel voneinander lernen können. Doch die Lügen und Intrigen der Menschen machten alles zunichte. Freunde wurden plötzlich zu Feinden und Versprechen zu Lügen. Zum ersten Mal in seinem Leben schämte Gnunt sich dafür, so dumm zu sein. Wo er auch hinkam, verspotteten sie ihn, machten ihn zum Sklaven, schlugen und quälten ihn. Jetzt würden sie sogar versuchen ihn zum Verräter zu machen, doch er würde ihnen nichts mehr geben als sein Leben. Er war es denen schuldig, die ihm vertraut hatten. Er schuldete es Mogda, Cindiel und denen, die für ihre Sache kämpften.
»Wie ich gehört habe, bist du sehr kooperativ gewesen«, sagte einer der Männer vom Tisch mit dröhnender Stimme.
Gnunt blickte auf und versuchte die Stimme einer der Kapuzen zuzuordnen, doch die Gesichter der Männer blieben ihm genauso verborgen wie die Bedeutung des Wortes kooperativ. Anscheinend war es nun an ihm, etwas zu sagen. Schweigend starrten ihn die Kleriker aus
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