Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
hatte sich jeder seine eigene Wahrheit über die damaligen Ereignisse gestrickt, und nur noch die wenigsten erinnerten sich daran, was wirklich geschehen war.
Jetzt, wo die Götter den Völkern ihren Segen entzogen hatten, war es wichtig, den Glauben zu stärken. Diese Aufgabe hatten jene übernommen, die glaubten, unter der Gottlosigkeit am meisten zu leiden - die Priester. Aber anstatt Zuspruch zu geben und Hilfe zu leisten, wählten sie einen einfacheren Weg. Sie suchten nach einem Feind und fanden ihn. Niemand bot sich mehr an als die geschwächten Anhänger des Gottes, der im Rad des Gleichgewichts die gegenüberliegende Speiche hielt, sowie eine kleine Gruppe von Menschen, die dem Klerus schon immer ein Dorn im Auge war.
Cindiel war des Sichversteckens überdrüssig. Seit Tagen wartete sie darauf, dass Hagrim allabendlich aus dem Schankraum zu ihr hochkam und ihr die neuesten Informationen kundtat. Heute Nacht ließ er sie besonders lange warten. Seit geraumer Zeit war es in den unteren Etagen schon ruhig.
Cindiel stand an dem kleinen Butzenfenster, das kaum groß genug war, um hindurchzuklettern, und sah, wie der letzte Gast die Kupfergrotte verließ, ein alter Mann mit grauen Haaren und einem geflickten Umhang, der torkelnd über den Platz verschwand. Mehrfach wandte er sich in unterschiedliche Richtungen, um seinen Weg stets aufs Neue anzupeilen. Als er sich endlich für eine der Gassen entschieden hatte, stützte er sich an eine Hausmauer und übergab sich lautstark.
Dann wurde das Licht am Eingang der Kupfergrotte gelöscht, und die Straße sowie der kleine gepflasterte Platz lagen im Dunkeln. Cindiel hörte, wie Meister Ostmir den schweren eisernen Schlüssel vom Vordereingang im Schloss herumdrehte und den Riegel vorschob. Die müden, beschwerlichen Schritte auf der Treppe konnten nur eines bedeuten: Hagrim hatte sein Glas geleert, und Meister Ostmir war nicht bereit gewesen, für den Geschichtenerzähler eine neue Flasche auf Kredit zu öffnen.
Cindiel richtete ihren Blick weiterhin durch das Fenster auf den dunklen Platz, während Hagrim den oberen Flur entlangschlurfte. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie ungeduldig auf seine Neuigkeiten wartete. Er führte sich ohnehin schon auf wie der Vater, den sie nie gehabt hatte, weil er und ihre Mutter gestorben waren, als sie noch zu klein war, um Erinnerungen an diese Zeit zu haben. Sie hörte, wie der Geschichtenerzähler vor der Tür Halt machte und einen Augenblick innehielt, um tief Luft zu holen. Dann trat er ein.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst von den Fenstern wegbleiben«, zischte er energisch, noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Was ist, wenn dich jemand sieht?«
Die Tür fiel ins Schloss, und schon stand Hagrim hinter ihr. Er griff über sie hinweg und zog die vergilbten Vorhänge zu. Beleidigt drehte sich Cindiel zu ihm um.
»Wer sollte mich schon sehen? Und selbst wenn, ich weiß gar nicht, was das alles hier soll. Sie werden mich schon nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen, nur weil ich ein wenig respektlos war.«
Hagrim schaute verlegen zu Boden. Er drehte sich um, ging hinüber zum Tisch und setzte sich. Etwas linkisch fummelte er an den Knöpfen seines Wollumhanges herum, sodass sie beinahe abzureißen drohten.
»Was ist los?«, wollte Cindiel wissen.
»Sie würden dich nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Sie würden dich auf dem Marktplatz in aller Öffentlichkeit hängen.«
»Was erzählst du für einen Unsinn? Du bist doch schon wieder betrunken. Ich hatte gehofft, du würdest dich ein wenig bemühen, mehr Informationen zu bekommen. Stattdessen kommst du zurück und versuchst, mir Angst zu machen mit deinem verwirrten Alkoholgefasel.«
Hagrim streckte die Beine aus und lehnte sich in dem Stuhl zurück. »Glaub mir, Prinzessin, es wäre mir lieber, ich wäre betrunken. Mir ist zwar nicht zum Feiern, aber schließlich wird auch bei Beerdigungen der eine oder andere Tropfen zu sich genommen.«
»Jetzt sag endlich, was los ist«, fauchte Cindiel ihn an.
»Llinus ist tot, und du hast ihn getötet.«
»Was?«, rief Cindiel entsetzt aus. Ihr stockte der Atem. Das war unmöglich. »Ich soll Priester Llinus getötet haben? Das ist eine Lüge. Du warst doch dabei. Er war nur leicht verletzt, und den größten Schaden hat allein sein Stolz genommen.«
»Und die Ehre der Kirche, was noch schlimmer wiegt«, fügte Hagrim hinzu. Er erinnerte sich - natürlich. Viele andere hatten es auch gesehen. Doch
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