Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
zu finden und etwas zu essen zu haben. Hier, weit im Norden, war nichts wie in Nelbor. Außer dem hässlichen Hund vor zwei Tagen und einigen bläulichen Beeren, die ab und zu an kahlen Sträuchern hingen, hatte er nichts gegessen. Und einen Unterschlupf in dieser weiten flachen Einöde zu finden war unmöglich, wenn man größer war als ein Kaninchen.
Rator stellte sich mühsam auf die Beine. Mit der Zeit würde das Gefühl zurückkommen und der Schmerz nachlassen - wie jeden Tag. Und wie jeden Tag seit seinem Aufbruch in Nelbor griff er zu dem ledernen Beutel an seiner Seite. Abschätzend wog er ihn in der Hand. Von dem Inhalt des einst prall gefüllten Ledersäckchens war nicht mehr viel übrig. Das Zauberpulver der Trollschamanin würde ihm nur noch wenige Tage den Weg weisen, dann war er entweder am Ziel, oder er musste auf andere Weise zu Tabal gelangen.
Behutsam schob er Daumen und Zeigefinger in den Lederbeutel und holte etwas von dem restlichen Pulver hervor. Wie ein Koch, der eine kleine Prise Gewürz in sein Essen gab, zerrieb Rator das Pulver zwischen Zeigefinger und Daumen. Ein dünner grauer Faden wie bei einer gerade erloschenen Kerze zeigte sich und neigte sich langsam Richtung Westen. Rator verschnürte den Lederbeutel ordentlich und befestigte ihn wieder an seinem Hosenbund. Er drehte sich in alle Himmelsrichtungen und versuchte, sich neu zu orientieren.
Der Weg, den er heute nahm, wich nur wenig von der Richtung ab, die er in den vergangenen Tagen eingeschlagen hatte. So weit sein Auge reichte, sah er nur schneebedecktes Flachland. Außer einigen Felsen, die aus dem Weiß hervorstachen, und vereinzelten kahlen Büschen gab es nichts, um sich zu orientieren. Wie hatte Mogda ihm versucht zu erklären: Schnee wurde zu Wasser, Wasser verdunstete, und der Dunst verschwand in der Luft. Somit entstand Wasser aus Nichts und wurde zu Nichts, warum sollte man es dann fürchten?
Das klang gut, fand Rator, auch wenn sich ihm der Sinn nicht richtig erschloss. Mogda erzählte viele eigenartige Dinge, die sonst niemand aus seinem Volk verstand. Vielleicht verstand er nicht einmal selbst all das, was er in den Büchern der Hüttenbauer gelesen hatte, oder es wurde damals schon falsch aufgeschrieben. In einem der Bücher hatte schließlich auch gestanden, Oger wären dick, hässlich und faul. Das war natürlich nicht korrekt, aber wahrscheinlich hatte der Hüttenbauer, der das geschrieben hatte, nur Gnunt kennen gelernt.
Rator suchte weiter nach etwas, was es nicht gab, jedenfalls nicht hier. Ein Gebirge oder wenigstens der Verlauf der Sonne würden ihm helfen, sich besser zurechtzufinden. Jedoch wurde alles, was mehr als ein paar Meilen entfernt lag, von der weißen Wand, wo sich Ebene und Himmel in einer Mischung aus Dunst und Reflektionen vermischten, geschluckt.
Er hatte sich gerade damit abgefunden, doch seinen Weg von gestern fortzusetzen, als ihm mehrere kleine dunkle Punkte im Osten ins Auge fielen. Vor dem weißen Hintergrund waren sie deutlicher auszumachen, als ihm lieb war. Es handelte sich um seine Verfolger aus dem Dorf.
Rator fragte sich, welchen Grund sie haben konnten, ihn so weit zu verfolgen. Ganz bestimmt wollten sie kein Buch über ihn schreiben. Die vergangenen zwei Tage hatte er sie nicht gesehen, aber das hatte er die Sonne auch nicht, und trotzdem war sie da. Die Fremden hatten aufgeholt - enorm aufgeholt. Sie konnten unmöglich hinter ihm her sein, weil er einen ihrer Hunde gegessen hatte, dafür schmeckten die Tölen zu grauenhaft. Und im Gegensatz zu Ogern waren sie wirklich hässlich. Somit beschränkte sich Rator darauf anzunehmen, dass sie ihn verfolgten, weil sie Angst davor hatten, er könnte zurückkehren.
Wenn sie selbst einmal einen ihrer Hunde gegessen hätten, wüssten sie, dass er nicht zurückkommen würde. Jemanden nur deshalb zu verfolgen, weil er größer und stärker war als man selbst, schien eine Angewohnheit der Hüttenbauer zu sein, die sie nicht so alt werden ließ. Vielleicht wollten sie das aber auch gar nicht in dieser Einöde. Rator hätte es verstanden.
Er kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können. Sie waren zu sechst. Er konnte ihre Beine sehen und wie sie sich bewegten. Das bedeutete, sie waren weniger als drei Meilen entfernt. Wie hatten sie es nur geschafft, seinen Spuren zu folgen? Manchmal drehte er sich um und war noch nicht einmal in der Lage, die Spuren zu erkennen, die er gerade eben erst hinterlassen hatte. Das Weiß rundherum
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