Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
weiter, inzwischen verlor er sogar ab und an vollkommen das Bewusstsein. Der Junge hatte zu wenig gegessen, war unterkühlt, und sein Knie schwoll immer weiter an. Für Rator ergab es zunehmend weniger Sinn, den jungen Mann weiterhin mit sich herumzutragen. Der Nordmann hatte ihm gesagt, was er wissen wollte, und falls er Rator angelogen hatte, machte das auch kaum noch einen Unterschied. Der Junge würde tot sein, bevor Rator die Lüge würde aufdecken können.
Ihm machte es nichts aus, einen Hüttenbauer zum Sterben zurückzulassen. Er schuldete ihnen nichts. Einzig und allein die Tatsache, dass dieser Junge sich anscheinend nichts sehnlicher wünschte, als ein Krieger seines Volkes zu sein, ließ Rator zögern. Ein Krieger sollte die Möglichkeit haben, im Kampf zu sterben. Der Stamm, von dem der Junge kam, schien ähnliche Grundsätze zu haben wie die Oger. Ein Junge eines Volkes von kriegerischen Menschen, nicht von Bauern, Händlern und Adligen, sollte etwas Besseres verdient haben als einen Tod durch Erfrieren. Auch wenn Rator der Junge und sein Stamm nicht sympathisch waren, so fühlte er doch so etwas wie Respekt. Mehr konnte ein Mensch in seinen Augen ohnehin nicht erlangen. Also entschloss sich Rator, den Hüttenbauer weiter mitzuschleppen - wenn nötig, bis dieser tot war.
Vielleicht war es das Schicksal des Jungen oder einfach nur Zufall, aber am Abend sah Rator in der Ferne Lichter. Es waren wenigstens ein Dutzend, und sie bewegten sich nicht, deshalb schloss Rator auf ein Gehöft oder kleines Dorf. Seine Augen hatte sich immer noch nicht an den ewigen Dunst und das viele Weiß gewöhnt, deshalb sah er die beiden Männer erst zu spät aus ihren Verstecken aufspringen. Doch anstatt ihn anzugreifen und seine Unbeweglichkeit aufgrund des Menschen über seiner Schulter auszunutzen, rannten sie davon. Sie nahmen Reißaus in Richtung der Häuser. Rator war sich sicher, dass es sich nicht um Krieger handelte. Sie waren in dick wattierte Leinenjacken und Hosen mit aufgenähten Lederflicken gekleidet, wie Rator es auch von den Bauern in Nelbor her kannte, wenn die kalte Jahreszeit anbrach. Außerdem trugen sie keine Waffen, jedenfalls keine, die einem Oger gefährlich werden konnten.
Rator ließ sich nicht beirren und folgte ihnen. Warum sollte er Angst vor Menschen haben, die vor ihm wegliefen? Wahrscheinlich würden sie sich vor ihm verschanzen, wie so oft, oder sie riefen Verstärkung. Hüttenbauer, die sich so verhielten, griffen nie zuerst an. Sobald sie sahen, dass er ihnen einen der ihren brachte, weil dieser verletzt war, würden sie den Oger wieder von dannen ziehen lassen.
Als Rator näher kam, sah er die flachen Häuser. Die Dächer waren mit Erde zugedeckt und die Wände aus ganzen übereinanderliegenden Stämmen gebaut. Keines der Häuser war auf Pfählen errichtet worden wie in Gelps Dorf, und ein Gemeinschaftshaus schien es auch nicht zu geben. Nicht einmal über einen Wehrwall verfügte die Siedlung.
Rator konnte sich dem kleinen Dorf ungehindert nähern. Ab und an zeigten sich neugierige Gesichter hinter den Fenstern, die sofort wieder verschwanden, wenn Rator in ihre Richtung sah. Doch Panik schien sein Erscheinen nicht auszulösen. Er blieb fünfzig Schritt entfernt von dem ersten Gebäude stehen und legte Gelp auf die Erde. Der junge Krieger war bei Bewusstsein und versuchte, sich aufzurichten. Rator gab ihm etwas Hilfestellung. Gelp versuchte, ihn wegzustoßen, um dem Oger zu zeigen, dass er es allein schaffte. Herausfordernd starrte er Rator an.
»Gib mir meinen Dolch zurück und verschwinde«, stöhnte er. »Ein Krieger braucht seine Waffe.«
Rator schüttelte den Kopf. Er würde keinen Feind zurücklassen mit einer Waffe in der Hand. Der Junge hatte gerade erst versucht, ihn zu töten. Ein weiteres Mal würde er ihm diese Gelegenheit nicht geben.
Die ersten Türen wurden geöffnet, und jemand sprach aufgeregt in einer fremden Sprache. Nun wurde es Zeit, dass Rator sich zurückzog. Er wollte vermeiden, dass die Hüttenbauer sich von ihm bedroht fühlten.
Erst als er sich außerhalb der Schussreichweite von Pfeilen und Bögen befand, drehte er sich wieder um. Vor Gelp hatte sich eine ganze Meute von Menschen im Halbkreis versammelt. Viele hatten Fackeln dabei und einige sogar Laternen. Rator hörte ihre aufgeregten Rufe. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber sie klangen verärgert. Keiner von ihnen schien Gelp helfen zu wollen. Plötzlich begannen die Leute, Steine
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