Blutiges Echo (German Edition)
sie entweder ’nen Schniedel oder ihre Tage. Guck mal, da vorn, da drückt es richtig den Reißverschluss raus.«
»Ach komm, sei still. Die sieht total okay aus.«
»Klar, wenn du auf Frauen stehst, die ’nen Pimmel haben oder gerade auf der roten Welle surfen. Man sollte doch meinen, dass sie einen Tampon benutzen könnte, nicht so ’ne olle Binde. Irgendwas reinschieben, wo es niemand sieht, wie einen Maulwurf in sein Loch, so geht das, statt einfach ’nen Teppich über den Gully zu werfen. Das ist doch eklig. Verdammt, vielleicht ist es doch ein Schniedel. Vermutlich ist sie sogar ein Mann. Wenn ich sie mir so angucke, hat sie einen kleinen Schnurrbart, glaube ich.«
»Joey, kein Wunder, dass du kein Glück bei Frauen hast.«
»Im Gegensatz zu dir?«
»Auch wieder wahr.«
So saßen sie da, betrachteten ihre Umgebung, lauschten den Unterhaltungen und tranken Bier. Die Musik war laut, aber gut. Sie kam von einer Anlage, alles aus der Konserve. Das Licht wurde schummriger, die dunklen Gestalten der Tänzer bewegten sich hin und her, und die Beleuchtung hinter der Bar verschwamm. Die Gestalten tanzten hierhin und dorthin, und nach einer Weile schien es Harry, als würden sie alle ein bisschen schräg tanzen und der Tisch auf einem Schiff stehen, und das Schiff fuhr auf rauer See.
Harry kippte sich ein kühles Bier nach dem anderen hinter die Binde, bestellte immer noch einen Pitcher und fand, dass es alles nach Reinigungsbenzin schmeckte. Verdammt, genießen konnte er es nicht. Aber in Bezug auf die Geräusche hatte es die gewünschte Wirkung.
Er dachte an seine Mutter in dem großen alten Haus. Schon seit einem Monat hatte er sie nicht mehr besucht. Eigentlich sollte er mal wieder hinfahren. Dringend. Aber das Haus war für ihn kein Zufluchtsort mehr. Dort lauerte ein Trauma, an der Stelle, wo der Küchentisch stand. Was, wenn er den Stuhl beiseitezog, den sein Dad beim Aufstehen zurückgeschoben hatte, kurz bevor er umgekippt war?
Wäre dieser schlimme Augenblick da drin versteckt, in dem Quietschen eines Stuhlbeins?
Nachdem sein Dad gestorben war, hatte Harry während der ganzen drei Jahre, die er noch dort gewohnt hatte, nie wieder am Esstisch gegessen. Hatte diesen Stuhl nie angerührt.
Seinetwegen hatte auch seine Mutter den Stuhl nie verschoben. Sie musste ihn für verrückt gehalten haben, aber sie fasste den Stuhl nicht an. Sie hörte auf Harry. Sie ließ ihm seinen Willen, wie immer. Sie stellte den Stuhl hinaus auf die Veranda und legte ihn auf die Seite, wie er sie gebeten hatte, und da blieb das Möbelstück, solange Harry zu Hause wohnte.
Doch bei seinen Besuchen hatte er gesehen, dass der Stuhl wieder zurückgestellt worden war. Dass sie darauf gesessen hatte. Auf dem Stuhl ihres Mannes. An dem letzten Ort, wo der alte Herr gesessen hatte, bevor sein Herz stillstand.
Harry hatte das Gefühl, dass sie dort lauerte und auf ihn wartete: die böse Erinnerung an das ganze Ereignis, gefangen in einem Quietschen oder Rummsen.
Dennoch musste er irgendwann mal nach Hause zurück. Seine Mutter hatte in letzter Zeit nicht gut ausgesehen. Blass. Hagerer als sonst. Sie lief eigenartig, humpelte ein wenig. Zu viel Arbeit in dem Ramschladen, wo sie an der Kasse saß. Seit drei Jahren arbeitete sie nun dort, damit er in eine eigene Wohnung ziehen und aufs College gehen konnte. Und er selbst hatte sich ebenfalls nützlich gemacht. Reparaturarbeiten hier und da, und in einem Buchladen hatte er einen Teilzeitjob gekriegt. Außerdem hatte er ein Stipendium erhalten und einen Studienkredit aufgenommen.
Er war gern raus aus dem Haus, wegen dieses einen Geräuschs, von dem er genau wusste, dass es da war. Vielleicht waren es auch zwei. Daddy musste auf dem Boden aufgeschlagen sein, nachdem er den Stuhl zurückgeschoben hatte. Zeichneten die Geräusche auch Dinge auf, wenn man bereits tot war, oder funktionierte das nur während des Sterbens?
Harry wusste es nicht.
Er schenkte sich ein neues Bier ein, tauchte die Lippen in den Schaum und trank rasch. Muss nach Hause, dachte er. Nach Mom sehen. Ich muss. Bald. Ganz bald.
»Guck dir das mal an«, sagte Joey. »Die Typen machen dem alten Sack da das Leben schwer.«
Harrys Blick folgte Joeys Kopfnicken zu einem Tisch, den man durch eine Lücke zwischen den Tänzern sehen konnte. Im einen Moment konnte man den Kerl nicht sehen, und im nächsten, wenn die Tänzer eine bestimmte Bewegung vollführten, hatte man freie Sicht.
Der Mann saß allein am Tisch.
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