Blutiges Gold
dann den ganzen Schulstoff der vergangenen Jahre nachholen. Das gelang ihr innerhalb eines einzigen Jahres, dank der ihr eigenen ungewöhnlichen Intelligenz, einer neu entdeckten Disziplin und dank der Hilfe einer engagierten Lehrerin, die selbst keine Familie hatte. Ms Stintons Nachhilfe, ihr Vertrauen und ihre Unterstützung, dazu vierzehn Stunden tägliches Lernen und gute Ratschläge in Bezug auf Kleidung und Make-up hatten die Verwandlung von der Herumtreiberin ohne Zukunft in eine ganz besondere, sehr begabte Schülerin vollbracht.
Dieser Wandel verursachte eine Kluft zwischen Risa und der einzigen Person, die sich in der Kindheit um sie gekümmert hatte, der Person, die sie beschützt hatte, wenn sonst niemand auf ihre Schreie hörte: Cherelle Faulkner.
Sie besaßen so viele gemeinsame Erinnerungen …
Sie und Cherelle waren Schwestern, nur keine blutsverwandten. Und was besagte schon Blutsverwandtschaft? Ihre wirklichen Angehörigen hatten sie weggegeben, noch bevor sie geboren waren. Cherelle hatte Risa das Radfahren beigebracht. Sie hatte ihr gezeigt, wie man Lippenstift und Lidschatten benutzt. Sie hatte ihr erklärt, woher die Babys kamen und wie man es anstellt, dass man selber keine kriegte. Sie hatte die feinen Leute so perfekt nachgeäfft, dass Risa sich vor Lachen fast in die Hose gemacht hatte – und dadurch die ständige Demütigung vergessen konnte, Lumpenpack genannt zu werden, weil sie Secondhandkleider trug, auf das Essen der Wohlfahrt angewiesen war und Löcher in den Schuhen hatte.
Cherelle hatte ihr auch beigebracht, die Schule zu schwänzen, Unterschriften auf Entschuldigungsschreiben zu fälschen und Sachen aus dem Laden am Highway mitgehen zu lassen.
Und es war Cherelle gewesen, die einen Studenten von der fünfzehnjährigen Risa weggezerrt und ihm mit dem Knie eins dorthin versetzt hatte, wo es meisten wehtat. Dabei hatte sie geschrien, dass sie selbst es für Geld mache, bedeute noch lange nicht, dass ihre Freundin es umsonst tun würde.
Kurz nach dieser grässlichen Nacht hatte Cherelle die Stadt mit einem ihrer »Bekannten« verlassen. Risa hatte geheult, als sei sie von ihrer ganzen Familie verlassen worden.
Weil es genauso war.
Ihre Adoptivmutter starb, bevor Risa sechs Jahre alt war. Der Mann, zu dem sie »Papa« sagte, hatte eigentlich kein Kind haben wollen. So war Risa zur Schwester ihrer verstorbenen Mutter, besser gesagt, ihrer Stiefschwester gekommen, die mit Risas Mutter gemeinsam aufgewachsen war. Sara Lisa brauchte das Geld dringend, das sie für die Pflege von Risa erhielt. Sie war keine schlechte Mutter. Sie schlug Risa nicht und verweigerte ihr keine Nahrung. Nur war Sara Lisa zu sehr mit ihrem Job als Kellnerin beschäftigt und mit Besäufnissen an den Wochenenden, um noch viel Zeit oder Kraft für Risa zu haben.
Dann waren Cherelles Stiefeltern in den Wohnwagen daneben gezogen. Und innerhalb von wenigen Wochen verwandelte sich die einsame neunjährige Risa in Cherelles schlagfertigen Schatten. Gemeinsam eroberten sich die beiden Mädchen die Welt mit viel Gekicher und schnellen Beinen, mit denen sie all dem Ärger davonliefen, in den sie gerieten. Zumindest eine Zeit lang.
Ohne etwas zu sagen, führte Risa Cherelle zu einer unauffälligen Tür mit der Aufschrift Nur für Mitarbeiter . Risa gab an der Tastatur neben der Tür eine Codenummer ein. Die Tür öffnete sich.
»Hier lang«, sagte Risa.
Die Tür schloss sich hinter ihnen. Sie befanden sich nun in einem ruhigen, schlichten Flur mit ebenso einfachen Aufzugstüren an beiden Wänden. Nach all dem Luxus und Lärm des Casinos wirkten die beige Farbe und die Stille fast anstößig.
Risa ergriff den Ausweis aus Plastik an seiner langen Kette und schob ihn in einen Schlitz neben den Aufzügen. Nachdem die Tür aufgegangen war und sie den Fahrstuhl betreten hatten, steckte sie den Ausweis in den Schlitz neben der Tastatur und tippte den Code ihres Büros ein. Nur bei einer gültigen Codenummer schlossen sich die Türen und der Aufzug setzte sich in Bewegung. In der Kabine gab es keine Signallampen, keine Zahlen, nichts, was die Stockwerke benannt hätte, die unsichtbar vorbeiflogen.
»Hey, Küken, arbeitest du etwa im Tresorraum oder was?«
»Wieso?«
»Na, wegen diesem ganzen Kram mit Ausweis und Nummern. Nicht mal zu sehen, was für ’ne Etage das hier ist.«
»Oh, das. Die Stücke, mit denen ich zu tun habe, sind ziemlich wertvoll.«
»Echt? Das musst du mir unbedingt zeigen.«
»Kein Problem.
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