Blutiges Gold
Votivgabe«, sagte er zu Shane. »Ausgezeichnet erhalten!«
»Wie überaus überraschend«, kommentierte Risa, ohne sich an einen der beiden zu wenden.
Shane warf ihr aus den Winkeln seiner tiefgrünen Augen einen Seitenblick zu, bevor er die Figur ergriff. Diesmal war er auf das Gefühl sengenden Wiedererkennens und Macht vorbereitet. Seine Hand zitterte nicht einmal. Er bewunderte die erstaunliche Vielfältigkeit der eingravierten Muster auf dem offensichtlich potenten Hirsch, dann reichte er das Gold an Risa weiter. Aus ihrem herausfordernden Blick schloss er, dass er seine Hand nicht wieder unter ihre legen durfte, sonst würde sie das Objekt in seinen Schoß fallen lassen. Mit kaum merklichem Lächeln setzte er ihr die Figur auf die Handfläche.
Außer einem ganz leichten Zucken, das nur er bemerkte, war ihr keine Reaktion anzumerken. Aber das Aufflackern in ihren Augen verriet ihm, dass sie die Figur, ebenso wie er selbst, auf irgendeinem unbewussten Weg wiedererkannt hatte.
Für Risa war diese Erkenntnis so überwältigend wie die kunstvoll ausgeführten Zeichnungen auf der Figur.
Sie träumte.
Sie erkannte es wieder.
Und sie flüchtete davor, so schnell sie konnte.
Stumm schwor sie sich herauszufinden, warum das so war.
Risa hielt den Hirsch unter das Mikroskop. Als sie das Objekt scharf vor der Linse hatte, wusste sie nicht, ob sie die außerordentliche Schönheit bewundern sollte, die auf ihrer Handfläche lag, oder ob sie ihren Kopf auf den Tisch legen und weinen sollte über all das, was im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen war und niemals wieder bekannt werden konnte.
»Keltisch«, sagte sie heiser. »Mindestens viertes oder fünftes Jahrhundert nach Christus. Das ist der Beginn des goldenen Zeitalters der keltischen Kultur, die in den Illuminationen des Book of Kells gipfelt. Der künstlerische Stil auf diesem Hirsch ähnelt eher dem des Book of Lindisfarne, das im frühen Mittelalter entstand, also zu Beginn der Blütezeit illuminierter Handschriften. Es wäre Arbeit für ein ganzes Forscherleben, die vielfältigen Muster und Zusammenhänge der Symbolik auf dieser Figur zu enträtseln. Und auch nach lebenslanger Arbeit bliebe immer noch ein Teil unerforscht – die emotionale und intellektuelle Wirkung dieser Figur, die die Menschen zur Zeit ihrer Entstehung empfunden hatten. Der Kontext ist uns verloren gegangen. So viel … verloren.«
Smith-White hörte die Ehrfurcht in Risas Stimme und fragte sich, ob er einen Fehler begangen hatte, als er den Hirsch als drittes Objekt statt als letztes zeigte. Für ihn war der Armring das spektakulärste Stück der Gruppe, deshalb hatte er sich entschlossen, ihn erst am Ende zu präsentieren. Der Hirsch war ein hübsches Stück, wirklich sehr schön, aber die Muster waren so vertrackt, dass sie den modernen Betrachter eher verwirrten. Seiner Meinung nach war der Armring viel eindrucksvoller.
Es blieb abzuwarten, wie Shanes Kuratorin dies sah.
Nachdem sie den Hirsch wieder für die Kamera positioniert hatte, gab Risa ihn zögernd an Smith-White zurück.
»Ich muss noch einmal betonen«, wandte sie sich an Shane, »wie unwahrscheinlich es ist, dass sich ein Objekt aus Gold, das so reich verziert ist, über so viele Jahrhunderte in solch einem fantastischen Zustand erhalten hat.«
»Ist notiert«, meinte Shane kurz.
Um diese Art von Unterhaltung abzubrechen, brachte Smith-White nun das vierte und letzte Objekt hervor. »Dieses hier ist ganz einfach spektakulär.«
Risa wollte einen Einwand bringen, aber es gab keinen.
Das Stück war einfach unglaublich.
Shane bereitete sich im Geiste darauf vor, den Armring in die Hand zu nehmen. Der Schlag traf ihn hart und tief, dann ließ er nach. Er hatte mit anderen Objekten ebenfalls Momente der Wiedererkennung gespürt, aber mit diesem waren sie nicht vergleichbar; es war, als ob man einen Stromschlag von einem blanken Elektrokabel erhielt.
Er stand auf und ging zu Risa hinüber, um sich schließlich zwischen sie und die scharfen Blicke aus Smith-Whites grauen Augen zu stellen.
»Wappnen Sie sich«, sagte er so leise, dass es der andere nicht hören konnte.
Behutsam nahm sie den Armring entgegen. Ein Hitzeschlag, ein Taumel der Zeit, ein Gefühl von Schwindel, bis die Realität langsam wieder ihren gewohnten Platz einnahm.
Allerdings verriet ihr Shanes Gesichtsausdruck, dass es länger gedauert hatte als die wenigen Sekunden der Desorientiertheit, an die sie sich selbst erinnerte.
Sie hatte keine
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