Blutiges Schweigen
Daneben lag die E-Mail des LCT an Megan sechs Tage vor ihrem Verschwinden. Das Datum war mit 27-03-11 angegeben. Als ich mit dem Finger die Zahlen entlangfuhr, stieg das Gefühl in mir auf, einer Sache ganz nah gekommen zu sein. Einem Gedanken. Einer Erinnerung. Ich hielt mir die Seite vors Gesicht und studierte die Zahlen.
Enthielt dieses Datum Informationen?
Ich vergaß das Gefühl für einen Moment und sah nach, an welchem Tag Leanne verschwunden war: dritter Januar 2011. Ich brauchte etwa dreißig Sekunden, um zu erkennen, dass mich das nicht weiterbringen würde. Es war genau dasselbe wie mit meiner Google-Recherche in Sachen Megan – nur,
dass in diesem Fall nicht groß in der Presse darüber berichtet worden war. Megan hatte alle richtigen Eigenschaften gehabt: weiß, wohlhabend, intelligent und schön. Bei Leanne verhielt sich das anders. Sie war nicht ganz so attraktiv und eine mittelmäßige Studentin gewesen und stammte aus der Arbeiterschicht. Außerdem führten ihre Eltern im Gegensatz zu den Carvers keine mustergültige Ehe. Leanne wurde nur einmal im Evening Standard und einmal in Metro erwähnt. Ich klickte nacheinander beide Artikel an. Sie waren jeweils zwei Spalten lang und zitierten Healy, der Leanne bat, nach Hause zu kommen. Am Ende stand die Nummer einer Hotline.
Was habe ich übersehen?
Zum zweiten Mal musterte ich die Ausdrucke auf meinem Schreibtisch. Das Datum. Die Art, wie es geschrieben war: 27-03-11. Wieder dieses Gefühl. Vielleicht handelte es sich ja um etwas, das ich gesehen oder gehört, aber nicht wirklich wahrgenommen hatte. Oder es war gar kein Datum.
Möglicherweise war es ja das Format.
Ich riss einen Zettel aus meinem Notizblock und schrieb das Datum der Tage auf, an denen die Mädchen verschwunden waren: 3. April 2011 und 3. Januar 2011. Darunter notierte ich mir dasselbe in Zahlen: 03 04 11 und 03 01 11. Dann lehnte ich mich zurück, ließ den Stift auf dem Schreibtisch hin und her rollen und lauschte dem Ticken der Wanduhr. Dabei starrte ich die ganze Zeit auf die Zahlen. Mit diesem Datum hatte es eine Bewandtnis.
Hinter die ich einfach nicht kam.
Ich beugte mich vor und tippte mit dem Finger auf Megans Datum: 03 04 11. Ich griff zum Stift und strich die Nullen und das Jahr durch: 3 4.
Drei und vier.
Oder vierunddreißig .
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich nahm
mein Handy vom Schreibtisch und klickte die Fotos an. Ganz oben in der Liste war das, das ich bei meinem ersten Besuch im Polizeirevier gemacht hatte. Megans Konterfei blickte mir leicht verschwommen von der Pinnwand im Großraumbüro entgegen. Daneben befanden sich die Karte und weitere Fotos. Und die zu einer senkrechten Reihe angeordneten sieben Post-it-Etiketten, auf denen jeweils eine Zahl stand. Ich konnte nur drei davon erkennen, die erste, die sechste und die siebte: 21 19, 3111 – und 34.
Das waren keine Zahlen.
Sondern Datumsangaben.
Die erste Zahl – 21 19 – bestand aus vier Ziffern. Sie hatten danach das Jahr vermerkt, damit klar wurde, dass es eine Anordnung in chronologischer Reihenfolge war – von 2010 bis 2011. Ich wandte mich wieder dem Computer zu, tippte diesmal »2 November 2009 vermisst« bei Google ein und drückte auf Return.
Vier Links weiter hatte ich es.
Es war eine Webseite, die vermisste Personen auflistete. Die erste Seite zeigte die Profile von vermissten Männern, Frauen und Kindern. Ein Gesicht nach dem anderen. So viele Vermisste, alle irgendwo verschwunden – oder vielleicht sogar noch schlimmer als das. Meine Anfrage bei Google hatte mich direkt zu den Personen geführt, die am zweiten November 2009 verschwunden waren. Es waren zweiunddreißig Seiten mit fast dreihundert Profilen. Und in der Mitte entdeckte ich die Frau, die ich gesucht hatte.
Auf dem Foto lächelte sie in die Kamera. Das blonde Haar umrahmte in langen, dünnen Strähnen ihr Gesicht. Sie war hübsch. Schlank, aber nicht mager.
Und sie sah genauso aus wie Megan und Leanne.
Ich klickte ihr Profil an.
Vermisst. Fallnr.: 09-004447891
Isabelle Connors
Alter bei Verschwinden: 28
Isabelle ist seit dem 2. November 2009 aus Finchley, Nordlondon, verschwunden. Sie wurde zuletzt in der Lemon Street in Islington gesehen, als sie nach einer Betriebsfeier in ihr Auto stieg. Später telefonierte sie noch mit einer Freundin, um zu melden, dass sie gut nach Hause gekommen sei. Man nimmt an, dass sie noch am selben Abend oder am nächsten Morgen verschwand, als sie
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