Blutland - Von der Leidenschaft gerufen
Latexhandschuh, und ein Stück weiter weg von mir, eine Bettpfanne aus Metall. Eine gelbe Pfütze breitete sich um mich herum aus, sickerte in den Teppich, und ich hustete.
»Tish!«, rief ein alter Mann. »Miss Everett! Sind Sie in Ordnung?«
Ich stemmte mich in eine sitzende Position hoch und lächelte Mr Rathbin an. »Ich muss gestolpert sein. Wie dumm von mir. Lassen Sie mich das kurz sauber machen.«
So schnell ich konnte, wischte ich den Urin mit Papiertüchern auf und besprühte den Teppich, als sei nichts Ungewöhnliches passiert. Doch innerlich fühlte ich mich wie in Ekstase.
Natürlich wusste ich genau, wo ich war, und ganz genau, was passiert war. Ich strich über das angelaufene Medaillon, während sich die Puzzleteile ineinanderfügten. In der ganzen Zeit, die ich in Sang war, seit Goodwill mein Medaillon gestohlen hatte, war hier in meiner Welt nicht eine Sekunde vergangen. Es musste der Zauber des Medaillons sein, der dafür sorgte, dass die Zeit dort für mich anders verging. Für Casper und Jonah Goodwill und jeden anderen, der hirntot oder unter Betäubung oder im Traum war, verging die Zeit ganz normal. Doch nicht für mich. Solange ich das Medaillon nicht umhatte, verlor ich nicht eine Sekunde meines Erdenlebens. Wenn mir nicht Madam Burial die Jahre in Sang gestohlen hätte, wenn das Medaillon mich nicht dort schneller altern ließe – es wäre das perfekte Arrangement gewesen.
Ich war nicht hirntot. Nana kam nicht vor Sorge um mich um. Und ich wusste jetzt ganz genau, wie das Medaillon wirkte. Wenn ich es beim Einschlafen in der einen Welt umhatte, wachte ich magischerweise in der jeweils anderen Welt auf. Wenn ich es in einer der beiden Welten abnahm, verging in der jeweils anderen Welt keine Zeit. Aber jede Sekunde, die ich als Mensch in Sang verbrachte, solange das Medaillon intakt war, bedeutete, dass ich in beiden Welten immer schneller alterte und meine Lebenszeit von der Hexe gestohlen wurde.
Ich konnte beinahe alles haben, wenn ich die Halskette einfach zum richtigen Zeitpunkt abnahm. Ich konnte bei Nana und Mr Surly sein, Hamburger essen und harmlose kleine Häschen auf der Erde streicheln. Und dann konnte ich eine wahrsagende Teilzeitkönigin der Fahrenden in Criminys Wanderzirkus sein. Ich konnte immer noch menschlich bleiben, ich konnte ich selbst bleiben. Zumindest noch eine Weile. Es hing alles davon ab, wie schnell Madam Burial mir meine Lebensjahre stahl, um wie viel schneller ich dank des Medaillons alterte.
Criminy hatte gesagt, für ihn würde ich immer wunderschön bleiben, aber ich ging mal davon aus, dass keiner von uns beiden wollte, dass ich zu alt und runzelig wurde. Trotzdem, es blieb noch Zeit.
Alles, was ich bis zum Schlafengehen zu tun hatte, war, ihn und seine gesamte Rasse zu retten.
Das konnte ich hinkriegen.
***
Aber zuerst musste ich mich um meine nächste Patientin kümmern, Mrs Henderson. Mit meinen Gedanken bei Criminy, steckte ich heimlich eine Flasche aus ihrem Medizinschrank in meine Tasche. Sie schlief gerade, sie war vergesslich, und ihr Sohn würde morgen bereitwillig zur Apotheke marschieren, wenn zum x-ten Mal ihre Medikamente fehlten. Kein Problem.
Dann meldete ich mich krank und erklärte, ich hätte Fieber. Eine andere Schwester würde sich um meine nächsten drei Patienten kümmern, darunter auch Mr Sterling. Ich würde seinen Fall abgeben müssen. Ihn so zu sehen und zu wissen, dass es in meiner Macht stand, ihn zurückzuholen, und dass ich mich stattdessen für mein eigenes Glück entschieden hatte … das war einfach zu deprimierend.
Er würde seine eigene Zukunft ohne mich finden müssen. Meine erste Vision von ihm hatte mir gezeigt, dass ein Verlust ihn retten würde, und ich hoffte, es würde so geschehen. Ich hatte Schmerz gesehen, aber zugleich auch Abenteuer und Freude und ein Schicksal, das meinem nicht so unähnlich war, weit weg in Sang. Er würde sich verändern, aber zum Besseren. Die zweite Vision war eine neue Möglichkeit gewesen, eine Weggabelung, und ein Teil von mir würde es immer bedauern, diesen Weg nicht eingeschlagen zu haben. Aber ich hatte mich auf meinen Weg festgelegt, und ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren.
Als ich zu Nana kam, war ich in Eile. Es war beinahe sechs Uhr, und ich hatte noch einen langen Weg vor mir.
Sie ertappte mich dabei, wie ich auf die Uhr schaute, und fragte: »Süße, hast du Hummeln im Hintern?« Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten, aber ich musste grinsen. Ein Teil von mir
Weitere Kostenlose Bücher