Blutland - Von der Leidenschaft gerufen
dem ich endgültig begriff, dass ich nicht träumte. Man holt sich keine blauen Flecken im Traum. Man hat keine Schmerzen. Und man sitzt ganz sicher nicht da und redet darüber, wo man war, wenn man wieder aufwacht.
»Wir dachten, du würdest schlafen, aber wir konnten dich nicht wecken«, fuhr er fort. »Mrs Cleavers’ Riechsalz hat dich für einen Augenblick zurückgeholt, aber dann hast du die Augen verdreht und warst wieder weg.«
»Ich glaube, daran kann ich mich erinnern«, sagte ich. »Aber nur verschwommen. Irgendwas hat gestunken.«
Er lächelte liebevoll und sagte: »Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen. Aber damit hast du deine Begabung für das Dramatische untermauert. Diese neugierige Bande glaubt, du wärest in eine Sehertrance gefallen und wirst mit der Kunde des nahen Untergangs aufwachen.« Dann flüsterte er: »Wo warst du?«
»Hilf mir auf«, bat ich. »Ich brauche Luft.«
Er hob mich hoch, als würde ich gar nichts wiegen, und stellte mich auf die Füße. Ich war etwas wackelig auf den Beinen, und wir versuchten, möglichst würdevoll zu seinem Wagen zu gehen – eigentlich trug er mich hauptsächlich.
»Nein«, wehrte ich ab. »Lass mich runter. Ich muss laufen. Meine Füße sind ganz eingeschlafen.«
Er ließ mich runter und wartete, bis ich nicht mehr schwankte. Dann bot er mir seinen Arm, und wir gingen ein Stück, um die Wagen etwas hinter uns zu lassen. Mein Rock verhedderte sich um meine Beine, und ich musste mich freistrampeln, um durchs Gras zu kommen.
Als wir uns ein gutes Stück vom Wagenzug entfernt hatten, erzählte ich: »Ich war wieder zu Hause.«
»Du meinst, zurück in deiner ursprünglichen Welt?«, fragte er.
»Ja, in meinem eigenen Bett, in meinem Pyjama, mit einem großen, fetten Kater auf meiner Brust. So bin ich um zwei Uhr einundzwanzig morgens aus einem Traum aufgewacht. So als wäre das hier ein Traum gewesen.«
»Was hat dich geweckt?«
»Mein Telefon hat geklingelt.«
»Dein was?«
»Telefon. Es ist eine Maschine, mit deren Hilfe man kommunizieren kann. Meine Großmutter dachte, ihr fehle etwas. Aber es war schwer für mich, die Augen aufzubekommen, und es fühlte sich an, als würde deine Welt versuchen, mich zurückzuhalten. Ich habe dich hier gesehen, nur für eine Sekunde, aber dann war ich wieder dort.«
»Dann hat das Riechsalz also funktioniert«, sagte er zu sich selbst. »Was hast du gemacht?«
Ich lachte. »Das, was nötig war. Als Krankenschwester die Situation beurteilt, Nana beruhigt und versprochen, ihr morgen früh Tee zu machen. Und dann war ich wieder hier.«
»Seltsam.«
»Yep.«
Wir gingen noch eine Weile, beide in Gedanken versunken, und ein leichter Windhauch bewegte die Löckchen, die sich aus meiner Frisur gelöst hatten, als ich umgefallen war. An einer Stelle blieb er stehen, um seinen paillettenbesetzten Mantel auszuziehen, unter dem der schwarze, den ich vorher schon getragen hatte, zum Vorschein kam. Mit einem scheuen Lächeln faltete er den Paillettenmantel wieder und wieder zusammen, bis er die Größe eines Taschentuchs hatte und stopfte ihn dann in eine der Innentaschen des schwarzen Mantels. Ich grinste und war entzückt wie ein Kind, denn mir war klar, dass seine Magie nie alltäglich für mich sein würde, ganz gleich, wie sehr ich mich an seine fremdartige Welt gewöhnen mochte.
»Damit ist die eigentliche Frage: Warum bist du zurückgegangen?«, stellte er schließlich fest.
»Nein, die eigentliche Frage ist: Wie schaffe ich es, dorthin zurückzukommen und dort zu bleiben?«
»Denkst du, dass das möglich ist?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, gestand ich. »Nehmen wir einfach mal an, dass beide Welten real sind. Wenn ich immer, wenn ich hier schlafe, dort wach bin, und immer wenn ich dort schlafe, hier wach bin, dann werde ich irgendwann den Verstand verlieren. Wenn ich keine echten Träume mehr habe und mein Gehirn keine Ruhepause bekommt, dann ist das Folter.«
Ich trat nach einem Häschen, das an meinem Stiefel schnüffelte. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich schlang mir die Arme um den Leib und drehte mich weg von ihm.
»Es ist nicht so schlimm, Liebes. Wir werden einen Weg finden«, sagte er sachte, und kam näher, um mich in seine Arme zu ziehen. Als ich seinen Körper an meinem Rücken spürte, und er die Arme um mich geschlungen hatte, beruhigte ich mich wieder ein wenig. Ob es nun sein Duft war oder einfach nur die Nähe einer anderen Person, ich konnte nicht verhindern, dass die
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