Blutland - Von der Leidenschaft gerufen
wahrscheinlich war es genau das. Namen, Daten und Aufzeichnungen. Alle paar Einträge änderte sich die Handschrift, obwohl alle Buchstaben eng beieinander standen und mit kunstvollen Schnörkeln verziert waren.
Der erste Eintrag lautete Vetivern Stain verh. mit Isly Tatters, 1281 . Danach kam ein Crumm Stain, geb. 1283 . Geburten, Eheschließungen und Todesfälle, ein Eintrag nach dem anderen. Seltsame Namen, vergleichbar mit nichts in meiner Welt. Und sie lebten auch länger als irgendein Mensch in meiner Welt. Jerebiah Stain hatte offenbar 343 Jahre gelebt, vor dem Eintrag gest. durch Ausbluten .
Igitt .
Aber der letzte Eintrag erregte meine Aufmerksamkeit. Criminy Stain, geb. 1793 .
Die Namen seiner Eltern standen gleich darüber, Angero Stain verh. mit Frey Pallor, 1793 .
Dasselbe Jahr. Interessant.
Ich streckte die Hand aus, um die alten Worte zu berühren, und in dem Moment, als meine Finger die Seite berührten, fühlte ich den nun schon vertrauten elektrischen Schock – und ich sah neue Worte, geschrieben in noch feuchtem, leuchtendem Rot.
Criminy Stain verh. mit Letitia Paisley, 1905.
Ich riss die Hand zurück, und die Worte waren verschwunden.
In Sang hätte ich so etwas erwartet, aber eine Vision in meiner Welt, in meinem Auto, in meiner Arbeitskluft – das war echt beängstigend. Was, wenn das jetzt jedes Mal passierte, wenn ich einen Patienten berührte? Würden Handschuhe das verhindern, so wie in Sang? Gott sei Dank ging ich nie irgendwo hin ohne eine große Schachtel mit Latexhandschuhen.
Aus reiner Neugier legte ich meine Handfläche auf eine andere Seite, aber nichts passierte. Ich schlug das Buch zu und ließ es unter den Fahrersitz gleiten.
Ich klopfte an Mr Rathbins Tür und trat mit einem Lächeln ein. Damit begann meine übliche Sechs-Stunden-Schicht, die ich mit geschlossenen Augen absolvieren konnte, vertraute Rituale von Reinlichkeit und Heilung. Aber alles, woran ich heute denken konnte, waren Sang und Criminy und Casper. In jedem Raum schaute ich auf die Uhr. Heute verging die Zeit langsamer als sonst.
Endlich erreichte ich meine vorletzte Station. Das wunderschöne historische Stadthaus des ehemaligen Konzertpianisten Jason Sterling. Ich klopfte und wurde von seinem Cousin eingelassen, einem ruhigen Musikstudenten, der dafür bezahlt wurde, dass er in seinem Apartment lebte. Er ging zurück auf sein Zimmer, und sobald ich ihn an seinem Klavier hörte, ging ich leise über den nackten Holzboden und ergriff die Hand der leeren Hülle des Mannes, den ich nun als Casper kannte. Die Hand lag schlaff und blass in meiner, die Nägel an seinen langen Fingern mussten mal wieder geschnitten werden. Die verschiedenen Maschinen piepsten leise im Hintergrund und übertönten damit eine CD seiner eigenen Konzerte.
Ich hatte das zuvor noch nie getan, aber diesmal wickelte ich sachte den Verbandsmull um seine Augen ab und hob eines seiner Augenlider an. Strahlend blau, unkoordiniert – tot. Aber so schön, wie ein unter Glas konservierter Schmetterling. Ich schloss das Auge und brachte den Verband wieder an. Dabei fuhr ich kurz mit der Hand über sein zentimeterkurzes, hellbraunes Haar und fragte mich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn es lang und lose herabhängend wäre. Während ich seine Infusionsflasche wechselte, betrachtete ich zum ersten Mal sein Tatoo, einen schwarzen Kreis mit einem Raben darin, der einen Schlüssel an einem Band hielt. Es fühlte sich ein wenig erhöht an, fast wie ein Brandzeichen. Ich würde ihn in Sang danach fragen müssen. Soll heißen, falls Criminy mich überhaupt wieder in seine Nähe ließ.
Sein Stadthaus war sauber und luftig. Es gab Fotos von seiner Familie, eines von ihm auf einer schwarzen Harley, ein anderes von ihm im schwarzen Smoking, lächelnd neben einem Stutzflügel in der Carnegie Hall. Auf jedem Foto war er hinreißend und voller Leben, genau die Art Mann, die ich liebend gerne mal zu Nana mit nach Hause bringen würde. Seine Bücherregale waren voller Bücher – eine respektable Sammlung an Klassikern, Musiktheorie, Poesie und ein wenig Science-Fiction. In einer kleinen abschließbaren Glasvitrine lag etwas, das aussah wie eine Erstausgabe von Grashalme von Walt Whitman, in verblasstem Grün mit Goldrand. Ich geriet beinahe in Verzückung.
Wäre er bei Bewusstsein, und ich wäre nach einem ersten Date hierhergekommen, dann wäre ich höchstwahrscheinlich gerne bereit gewesen, ein wenig auf seiner Couch mit ihm zu knutschen, nur
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