Blutlinien - Koeln Krimi
in die Lagunenstadt aufmachte. Marilyn traute Gabriella Salviati die schlimmsten Abscheulichkeiten zu.
Cesare hingegen hielt seine Schwester für ein Unschuldslamm, auch was die toten Ehemänner betraf. Im Laufe der Jahre hatte er ihr gegenüber sogar einen übersteigerten Beschützerinstinkt entwickelt: Wer weiß, wie lange sie noch lebt. Sie hat Diabetes, dazu die Herzprobleme. Sei großzügig, mein Herz. Wir sind so viel besser dran!
Die S-Bahn füllte sich mehr und mehr. Marilyn tastete nach Cesares Hand und musterte ihn von der Seite. Er trug seinen grauen Mantel aus Schurwolle und eine abgewetzte Ballonmütze mit Fischgrätmuster, obwohl wieder milde Temperaturen herrschten. In Venedig war es bestimmt noch heißer. Aber Cesare fror eigentlich immer.
»Fahr nicht«, flüsterte Marilyn.
Cesare drehte sich wortlos zum Fenster, unumstößliche Dinge diskutierte er nicht.
Marilyns Blick wanderte.
Der Mann saß eingequetscht von einem übergewichtigen Jugendlichen am Fenster. Marilyn erschrak bei seinem Anblick. Seit Tagen lungerte er in ihrer Straße herum. Wieder trug er diese russische Uschanka, eine dieser Fellmützen mit Ohrenklappen, für die es ebenfalls viel zu warm war. Als sich ihre Blicke trafen, begann Marilyn zu frösteln. Der Mann war klassisch schön, aber seine Augen blieben unbeweglich und erschreckend kalt. Eiskalt. Seine geschwungenen Nasenflügel zitterten, als nähmen sie Witterung auf. Marilyn fühlte sich unbehaglich, drehte sich weg, spürte jedoch weiter den unangenehmen Blick der stechenden Augen auf sich.
»Ich habe für dich vorgekocht.« Cesare zog Marilyn in die gemeinsame Welt zurück. »Für jeden Tag steht Essen im Kühlschrank. Du brauchst es nur aufzuwärmen.«
Das machte er immer. Cesare blickte voraus.
»Leg dir am Abend eine Wärmflasche ins Bett, nachts kühlt es merklich ab. Aber nimm nicht das Heizkissen! Du vergisst nur, den Stecker herauszuziehen. Und wenn das Geld im Umschlag, der in der Küchenschublade liegt, nicht reichen sollte, dann scheu dich nicht, Viktor um ein paar Euro zu bitten. Ich gebe sie ihm wieder, sobald ich zurück bin, hörst du?«
»Natürlich.«
Als die Bahn am Flughafen hielt, stiegen die meisten Fahrgäste aus. Cesare und Marilyn reihten sich ein, zogen gemeinsam den kleinen Trolley zur Rolltreppe. Der Beau mit der albernen Mütze war verschwunden. Marilyn erwähnte ihn Cesare gegenüber nicht. Er machte sich sonst noch mehr Sorgen.
Zielstrebig steuerte Cesare auf den Check-in-Schalter zu und drückte Marilyn zum Abschied einen Kuss auf die grellroten Lippen.
»Fahr nach Hause und pass auf dich auf. Übermorgen bin ich zurück.«
Köln, Nordpark-Residenz
Der Empfangsbereich glich dem eines Hotels. In der Lobby standen Frauen beieinander, stützten sich auf ihre Gehhilfen und unterhielten sich angeregt. Im Café schwatzten kleine Grüppchen und spielten Karten. Der Anblick des Alltäglichen versetzte Maline einen Stich. Ihr Vater nahm an diesem Leben nicht mehr teil, längst war er pflegebedürftig und baute zusehends weiter ab. Zu seiner Parkinson-Erkrankung waren diverse Schlaganfälle hinzugekommen, die sowohl Hirnleistung als auch Motorik stark in Mitleidenschaft zogen. Es gab nur noch wenige Tage, an denen Alfred Brass seine Tochter erkannte, und wenn er sprach, waren seine Mitteilungen auf wenige Worte begrenzt.
Er trug seinen blauen Schlafanzug, als sie das Zimmer betrat. Seine zittrigen Arme ruhten auf der glatt gestrichenen weißen Bettdecke, der Blick ging starr aus dem Fenster. Maline küsste ihn auf die Wange, wischte Speichel aus den Mundwinkeln, zog einen Stuhl heran und hielt seine knöchernen Hände.
»Wo ist denn Pfeiffer mit drei f?« Sie nickte hinüber zum Bett des Zimmergenossen. »Trinkt er wieder heimlich Feuerzangenbowle?«
Heinz Rühmann war der Lieblingsschauspieler ihres Vaters. Seine Mundwinkel schienen zu zucken, aber wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Es war für sie fast unerträglich, mitansehen zu müssen, wie Körper und Wesen ihres Vaters verfielen. Noch vor einigen Monaten hatten sie Gespräche führen können. Nun gab es diese klaren Momente kaum noch; beinahe lehrbuchmäßig durchlief ihr Vater einzelne Phasen.
Eine Pflegerin kam herein und brachte Medikamente. Maline erfuhr, dass der Zimmernachbar bei seiner Familie übernachtete, es gab einen feierlichen Anlass.
Als sie wieder allein waren, zog sie ihre Jacke aus, stellte den Stuhl so, dass sie ebenfalls hinaussehen konnte, und legte
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