Blutmale
einzige Mal im Leben, dann ist es Touristenpflicht, sich alles anzusehen. Lilys Gruppe bestand nur aus sechs Personen, zwei Amerikanern, zwei Briten und einem deutschen Paar. Heute würde sie nicht viel Trinkgeld mit nach Hause nehmen. Aber was konnte man an einem kühlen Donnerstag im Januar schon erwarten? Die Touristen von Lilys Gruppe waren im Moment die einzigen Besucher im Labyrinth, und sie ließ ihnen so viel Zeit, wie sie wollten, als sie sich an das Metallgitter drück ten und sie mit ihren raschelnden Regenmänteln streiften. Feuchte Luft wehte aus dem Tunnel herauf, der modrige Geruch von Schimmel und nassem Stein, ein Echo längst vergangener Epochen.
»Was waren diese Mauern ursprünglich?«, fragte der Deutsche. Lily hatte ihn gleich in die Schublade »Geschäftsmann« gesteckt. Er war in den Sechzigern, sprach ausgezeichnet Englisch und trug einen teuren Burberry-Regenmantel. Das Englisch seiner Frau war wohl nicht so gut, vermutete Lily; die Frau hatte den ganzen Morgen kaum ein Wort gesagt.
»Das waren die Grundmauern von Wohnhäusern aus der Zeit Kaiser Neros«, antwortete Lily. »Die große Feuersbrunst von 64 nach Christus legte dieses ganze Viertel in Schutt und Asche.«
»War das dieses Feuer, wo Nero Geige spielte, während Rom brannte?«, fragte der Amerikaner.
Lily lächelte. Sie hatte diese Frage schon Dutzende Male gehört und konnte fast immer vorhersagen, wer von den Teilnehmern sie stellen würde. »Nero kann überhaupt nicht gegeigt haben, denn die Violine war damals noch nicht erfunden. Es heißt, während Rom brannte, habe er die Leier geschlagen und dazu gesungen.«
»Und dann schob er die Schuld an dem Brand den Christen in die Schuhe«, fügte die Frau des Amerikaners hinzu.
Lily schaltete die Taschenlampe aus. »Kommen Sie, gehen wir weiter. Es gibt noch viel mehr zu sehen.«
Sie ging voran durch das düstere Labyrinth. Oben donnerte der Verkehr über die belebten Straßen, und die fliegenden Händ ler verkauften Ansichtskarten und Souvenirs an die Touristen, die durch die Ruinen des Kolosseums spazierten. Aber hier, unter der Basilika, hörte man nur das Rauschen des endlos fließenden Wassers, und das Rascheln der Mäntel im Dunkel des Tunnels.
»Diese Bauweise wird opus reticulatum genannt«, erklärte Lily und deutete auf die Wände. »Dabei werden abwechselnd Ziegel und Tuffstein verwendet.«
»Tuffstein?« Es war schon wieder der Amerikaner. Er war in dieser Gruppe für die dummen Fragen zuständig. »Kommt das von tough - weil es ein besonders harter Stein ist?« Nur seine Frau lachte - ein hohes, unterdrücktes Wiehern.
»Tuff«, sagte der Engländer, »ist nichts anderes als komprimierte Vulkanasche.«
»Ja, genau«, pflichtete Lily ihm bei. »Solche Steine wurden sehr häufig beim Bau römischer Wohnhäuser verwendet.«
»Wieso haben wir noch nie was von diesem Tuff-Zeugs gehört?«, fragte die Amerikanerin ihren Mann, als wollte sie andeuten, dass etwas, was sie nicht kannten, auch nicht existieren könne.
Trotz des schwachen Lichts konnte Lily sehen, wie der Engländer die Augen verdrehte. Sie reagierte mit einem amüsierten Schulterzucken.
»Sie sind doch Amerikanerin, oder?«, fragte die Frau Lily. »Miss?«
Lily zögerte. Diese persönliche Frage gefiel ihr gar nicht. »Nicht direkt, ich komme aus Kanada«, log sie.
»Haben Sie gewusst, was Tuffstein ist, bevor Sie Fremdenführerin wurden? Oder ist das vielleicht bloß so ein europäisches Wort?«
»Viele Amerikaner kennen dieses Wort nicht«, sagte Lily.
»Na, dann. Ist also doch eher was Europäisches«, meinte die Frau befriedigt. Wenn die Amerikaner es nicht kannten, konnte es unmöglich wichtig sein.
»Was Sie hier sehen«, fuhr Lily eilig mit ihren Erklärungen fort, »sind die Reste der Villa des Titus Flavius Clemens. Im ersten Jahrhundert nach Christus war dies ein geheimer Treffpunkt von Christen, die damals ihre Religion noch nicht offen praktizieren konnten. Das Christentum war zu jener Zeit noch eine sehr junge Sekte, die gerade erst bei den Frauen der Adligen Anklang zu finden begann.« Sie schaltete ihre Taschenlampe wieder ein und benutzte den Lichtstrahl, um die Aufmerksamkeit der Gruppe zu steuern. »Wir kommen jetzt zum interessantesten Teil dieser Ruinen. Dieser Abschnitt wurde erst 1870 entdeckt. Hier können wir einen geheimen Tempel für heidnische Rituale besichtigen.«
Sie durchquerten einen Gang und sahen vor sich in der Dunkelheit korinthische Säulen aufragen. Es war
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