Blutmale
Christentums‹. Aber das hat mit Geschichte nichts zu tun. Es ist reine Mythologie.«
»Es ist tatsächlich Geschichte«, seufzte Lily. »Aber die Geschichte ist nicht immer das, was man uns in der Schule erzählt hat.«
»Und Sie sind Expertin?«
»Ich habe einen Abschluss in …« Lily unterbrach sich. Pass auf, was du sagst . »Ich habe Geschichte studiert.«
»Und das ist alles?«
»Ich habe außerdem in Museen auf der ganzen Welt gearbeitet«, erwiderte Lily, deren Unmut sie nun alle Vorsicht vergessen ließ. »In Florenz, in Paris.«
»Und jetzt sind Sie Reiseleiterin.«
Trotz der Kühle des unterirdischen Raums spürte Lily, wie ihr Gesicht zu glühen begann. »Ja«, sagte sie nach einer langen Pause. »Ich bin nur eine einfache Reiseleiterin. Mehr nicht. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden - ich muss nach dem Fahrer sehen.« Sie machte kehrt und tauchte in das Labyrinth von Tunneln ein. Heute würde sie mit Sicherheit kein Trinkgeld bekommen - also sollten sie gefälligst zusehen, wie sie allein den Weg nach oben fanden.
Sie stieg die Stufen vom Mithräum hinauf zu den byzantinischen Grundmauern, und mit jedem Schritt rückte sie in der Zeit vor. Hier, unter der gegenwärtigen Basilica di San Clemente, lagen die verfallenen Gänge einer Kirche aus dem vierten Jahrhundert. Acht Jahrhunderte lang hatte sie vergessen unter den Fundamenten der mittelalterlichen Kirche gelegen, die sie ersetzt hatte. Sie hörte Stimmen, die sich näherten; sie sprachen Französisch. Es war eine andere Reisegruppe, auf dem Weg hinunter ins Mithräum. Sie kamen ihr in dem engen Gang entgegen, und Lily trat zur Seite, um die drei Touristen mit ihrem Führer vorbeizulassen. Während ihre Stimmen verhallten, blieb sie unter den bröckelnden Fresken stehen. Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre eigene Gruppe einfach hatte stehen lassen. Warum hatte sie sich auch von den Bemerkungen dieser einen ungebildeten Touristin so aus der Fassung bringen lassen? Was hatte sie sich dabei gedacht?
Sie machte kehrt und erstarrte, als sie am anderen Ende des Gangs die Silhouette eines Mannes erblickte.
»Ich hoffe, Sie haben sich nicht zu sehr über sie geärgert«, sagte er. Sie erkannte die Stimme des deutschen Touristen und ließ die angehaltene Luft entweichen, als die Anspannung schlagartig von ihr abfiel.
»Ach, ich habe schon Schlimme res zu hören bekommen.«
»Das haben Sie nicht verdient. Sie haben doch nur die geschichtlichen Zusammenhänge erläutert.«
»Manche Leute bevorzugen ihre eigene Version der Geschichte.«
»Wer keine Herausforderungen mag, darf eben nicht nach Rom kommen.«
Sie lächelte - ein Lächeln, das er vom anderen Ende des schummrigen Tunnels vermutlich nicht sehen konnte. »Ja. Rom schafft es irgendwie, uns alle herauszufordern.«
Er kam auf sie zu, mit langsamen Schritten, als ob er sich einem scheuen Reh näherte. »Dürfte ich Ihnen einen Vorschlag machen?«
Ihr Mut sank. Er hatte also auch etwas zu kritisieren. Und was war es wohl diesmal? Konnte sie es denn heute keinem recht machen?
»Es ist nur eine Idee«, fuhr er fort, »für eine andere Art von Führung; etwas, was mit Sicherheit einen ganz anderen Typ von Besuchern anziehen würde.«
»Was wäre denn das Thema?«
»Sie kennen sich doch in der biblischen Geschichte aus.«
»Ich bin keine Expertin, aber ich habe einiges darüber gelesen.«
»Jedes Reisebüro bietet Führungen zu den heiligen Stät ten an, für Touristen wie unsere amerikanischen Freunde - Menschen, die in den Fußstapfen der Heiligen wandeln wollen. Aber es gibt auch Menschen wie uns, die sich weder für Heilige noch für heilige Stätten interessieren.« Er war an ihre Seite getreten und stand nun so dicht neben ihr in dem dunklen Tunnel, dass sie den Geruch von Pfeifentabak in seinen Kleidern riechen konnte. »Manche von uns«, sagte er leise, »suchen gerade das Unheilige.«
Sie verharrte vollkommen reglos.
»Sie haben die Geheime Offenbarung gelesen?«
»Ja«, flüsterte sie.
»Sie wissen, dass dort von dem Tier die Rede ist.«
Sie schluckte. Ja.
»Und wer ist das Tier?«
Langsam wich sie zurück. »Nicht, wer, sondern was. Es … es steht für Rom.«
»Ah. Sie kennen die gelehrte Auslegung.«
»Das Tier war das römische Imperium«, sagte sie, während sie weiter zurückwich. »Die Zahl 666 war ein Symbol für Kaiser Nero.«
»Glauben Sie das wirklich?«
Sie blickte sich zum Ausgang um und sah niemanden, der ihr den Fluchtweg
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