Blutmale
der Vorraum des Tempels, mit Steinbänken an den Wänden, dekoriert mit alten Fresken und Stuckarbeiten. Sie drangen tiefer ein, in den Altarraum, vorbei an zwei dunklen Nischen, in denen Initiationsriten stattgefunden hatten. In der Welt über ihnen hatte sich das Bild der Stadt im Lauf der Jahrhunderte stetig verändert, doch in dieser antiken Grotte war die Zeit stehen geblieben. Hier war immer noch das Relief zu sehen, das den Gott Mithras beim Schlachten des Stiers zeigte. Hier hörte man noch immer das sanfte Rauschen des verborgenen Wasserlaufs.
»Als Christus geboren wurde«, erklärte Lily, »war der Mithraskult bereits alt; Mithras wurde von den Persern schon seit Jahrhunderten verehrt. Und nun betrachten wir einmal die Lebensgeschichte des Mithras, wie sie sich im Glauben der Perser darstellte. Er war der Gottesbote der Wahrheit. Seine Mutter Anahita war eine Jungfrau, und bei seiner Geburt brachten Hirten ihm Gaben dar. Er hatte zwölf Jünger, die ihn bei seinen Reisen begleiteten. Er wurde in einem Grab beigesetzt und stand später von den Toten auf. Und jedes Jahr wird seine Auferstehung als eine Wiedergeburt gefeiert.« Sie machte eine Kunstpause, um die Wirkung ihrer Worte zu steigern, und blickte in die Gesichter ihrer Zuhörer. »Kommt Ihnen irgendetwas davon bekannt vor?«
»Das ist das christliche Evangelium«, sagte die Amerikanerin.
»Und doch war es schon viele Jahrhunderte vor Christus Teil der persischen Überlieferung.«
»Nie davon gehört.« Die Touristin sah ihren Mann an. »Du vielleicht?«
»Nee.«
»Dann sollten Sie vielleicht einmal die Tempel von Ostia besuchen«, sagte der Engländer. »Oder den Louvre. Oder das Archäologische Museum in Frankfurt. Könnte ganz lehrreich sein.«
Die Amerikanerin drehte sich zu ihm um. »Sie müssen gar nicht so herablassend tun.«
»Glauben Sie mir, Madam, nichts von dem, was unsere reizende Führerin hier erzählt hat, ist in irgendeiner Weise schockierend oder unwahr.«
»Hören Sie, Sie wissen genauso gut wie ich, dass Jesus Chris tus nicht irgendein alter Perser mit einem komischen Hut war, der Stiere abgeschlachtet hat.«
Lily schaltete sich ein. »Ich wollte nur auf einige interessante Parallelen in der Ikonographie hinweisen.«
»Was?«
»Ach, es ist auch nicht weiter wichtig«, sagte Lily und hoffte inständig, dass die Frau nun endlich Ruhe geben würde. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie jede Hoffnung auf ein großzügiges Trinkgeld von dem amerikanischen Paar längst begraben konnte. »Es ist ja alles nur Mythologie.«
»Die Bibel ist keine Mythologie.«
»So habe ich das nicht gemeint.«
»Was weiß man denn schon über diese Perser? Ich meine, was ist denn deren Heilige Schrift?« Die anderen Touristen standen nur in betretenem Schweigen da.
Lass es gut sein. Es ist lohnt sich nicht, darüber zu strei ten .
Doch die Frau war noch nicht fertig. Seit sie am Morgen in den Tourbus gestiegen war, hatte sie ununterbrochen über alles gemeckert, was mit Italien und den Italienern zu tun hatte. Der Verkehr in Rom war chaotisch, ganz anders als in Amerika. Die Hotels waren zu teuer, ganz anders als in Amerika. Die Badezimmer waren so klein, ganz anders als in Amerika. Und jetzt noch dieses letzte Ärgernis. Sie hatte die Basilica di San Clemente betreten, um einen der ältesten christ lichen Versammlungsorte zu besichtigen, und stattdessen musste sie eine Flut von heidnischer Propaganda über sich ergehen lassen.
»Woher wissen wir denn, was diese Mithraner wirklich geglaubt haben?«, fragte sie. »Wo sind sie denn heute?«
»Ausgelöscht«, sagte der Engländer. »Ihre Tempel wurden schon vor langer Zeit zerstört. Was glauben Sie denn, was passiert ist, nachdem die Kirche die Behauptung aufstellte, Mithras sei die Ausgeburt Satans?«
»Das klingt für mich, als wollte jemand die Geschichte neu schreiben.«
»Und was glauben Sie, wer hinter dieser Geschichtsklitterung steckt?«
»Damit wären wir am Ende unserer Führung angelangt«, ging Lily dazwischen. »Ich danke Ihnen allen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Schauen Sie sich gerne noch ein wenig um, wenn Sie möchten. Der Fahrer wartet dann abfahrbereit im Bus auf Sie. Sobald Sie fertig sind, bringt er Sie zurück in Ihre Hotels. Wenn Sie noch Fragen haben, bin ich gerne bereit, sie zu beantworten.«
»Ich finde, Sie sollten die Touristen vorher informieren«, sagte die Amerikanerin.
»Worüber?«
»Diese Führung nennt sich ›Die Anfänge des
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