Blutmale
dass man fast meinen konnte, sie sei nachträglich hinzugefügt worden. »Mit Ocker gezeichnet, wie an den anderen Tatorten.«
»Woher wissen Sie das mit dem Ocker?«, fragte Jane.
»Meine Kollegen müssen das sehen. Um zu bestätigen, was es meiner Ansicht nach darstellt.« Er zog sein Handy aus der Tasche.
»Moment mal«, bremste ihn Jane. »Das hier ist keine öffentliche Ausstellung.«
»Wissen Sie dieses Symbol zu deuten, Detective? Haben Sie irgendeine Vorstellung, was es bedeuten könnte? Wenn Sie diesen Mörder fassen wollen, müssen Sie verstehen, wie er denkt. In welchen Symbolen.«
Maura sank in die Hocke, um die Zeichnung genauer in Augenschein nehmen zu können. Sie sah gekrümmte Hörner, einen dreieckigen Kopf und Schlitzaugen. »Sieht aus wie eine Ziege«, sagte sie. »Aber was hat das zu bedeuten?« Sie blickte zu Sansone auf. Seine hoch aufragende Gestalt zeichnete sich gegen die helle Morgensonne ab, dunkel und gesichtslos.
»Diese Zeichnung stellt Azazel dar«, sagte er. »Es ist ein Sym bol der Wächter.«
»Azazel war der Anführer der Se'irim«, erklärte Oliver Stark. »Das waren Dämonen in Bocksgestalt, die in der Wüste hausten, lange vor Moses, vor den Pharaonen. In der Zeit von Lilith.«
»Wer ist denn Lilith?«, fragte Frost.
Edwina Felway sah ihn verblüfft an. »Sie kennen Lilith nicht?«
Frost hob verlegen die Schultern. »Ich bin nicht besonders bibelfest, muss ich zugeben.«
»Oh, in der Bibel werden Sie Lilith nicht finden«, sagte Edwina. »Aus der christlichen Lehre ist sie längst verbannt; allerdings hat sie ihren Platz in den hebräischen Legenden.
Sie war Adams erste Frau.«
»Adam hatte noch eine Frau?«
»Ja, vor Eva.« Edwina lächelte, als sie sein erstauntes Gesicht sah. »Haben Sie etwa geglaubt, dass die Bibel die ganze Geschichte erzählt?«
Sie saßen in Mauras Wohnzimmer, wo sie sich um den Couchtisch versammelt hatten. Olivers Skizzenblock lag zwischen den leeren Kaffeetassen. Keine halbe Stunde, nachdem Sansone sie angerufen hatte, waren sowohl Edwina als auch Oliver eingetroffen, um die Symbole an der Tür zu untersuchen. Sie hatten die Diskussion auf der Veranda nach wenigen Minuten unterbrochen und waren vor der Kälte ins Haus geflüchtet, wo sie beim Kaffee ihre Theorien ausgebreitet hatten. Theorien, die Maura jetzt wie kaltblütige intellektuelle Gedankenspiele vorkamen. Ihr Haus war von einem Mörder gezeichnet worden, und diese Leute saßen seelenruhig in ihrem Wohnzimmer und fachsimpelten über ihre abstruse Mythologie. Sie blickte zu Jane, deren Miene unmissverständlich zu verstehen gab: Diese Typen haben doch nicht alle Tas sen im Schrank. Aber Frost war offensichtlich fasziniert.
»Ich habe noch nie gehört, dass Adam eine erste Frau hatte«, sagte er.
»Es gibt eine ganze Geschichte, die in der Bibel totgeschwiegen wird, Detective«, sagte Edwina, »eine geheime Geschichte, die Sie nur in den kanaanitischen und hebräischen Legenden finden werden. Da ist von der Vermählung von Adam mit einer freigeistigen Frau die Rede, einer raffinierten Zauberin, die sich weigerte, ihrem Mann zu gehorchen oder unter ihm zu liegen, wie es von einer braven Ehefrau erwartet wurde. Stattdessen verlangte sie wilden Sex in allen möglichen Positionen und verhöhnte ihn, als es ihm nicht gelang, sie zu befriedigen. Sie war die erste wahrhaft befreite Frau der Welt, und sie hatte keine Scheu, ihre Sinnlichkeit auszuleben.«
»Klingt wesentlich interessanter als Eva«, meinte Frost.
»Aber in den Augen der Kirche war Lilith ein Monstrum - eine Frau, die sich der Kontrolle durch den Mann entzog, ein Wesen mit einem so unersättlichen sexuellen Appetit, dass sie schließlich ihren langweiligen alten Ehemann Adam verließ und sich davonmachte, um Orgien mit Dämonen zu feiern.« Edwina hielt inne. »Und die Folge davon war, dass sie den mächtigsten aller Dämonen zur Welt brachte, der die Menschheit seither plagt.«
»Sie meinen doch nicht etwa den Teufel?«
Sansone schaltete sich ein. »Im Mittelalter war dieser Glaube sehr verbreitet - dass Lilith die Mutter Luzifers war.«
Edwina schnaubte verächtlich. »Da sehen Sie also, wie die Geschichte mit einer selbstbewussten Frau umspringt. Wenn sie sich weigert, sich zu unterwerfen, wenn sie ein bisschen zu viel Spaß am Sex hat, wird sie von der Kirche postwendend in ein Ungeheuer verwandelt. Und gilt fortan als die Mutter des Teufels.«
»Oder sie verschwindet ganz aus der Geschichte«, sagte Frost.
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