Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
mich auf den Weg in den Salon.
Reich zu sein ist wirklich furchtbar. Man muss in so einem schrecklich schönen Haus wohnen, sich morgens an den gedeckten Tisch setzen, sich nie darum kümmern, ob der Kühlschrank gefüllt, der Weinkeller gut bestückt, das Auto gewaschen und aufgetankt ist. Auch das Aufräumen und Saubermachen muss einen nicht interessieren, denke ich, als ich mich im Wohnzimmer umsehe. Hier sieht es aus, als habe unsere kleine Party gestern Abend nie stattgefunden. Der Plattenspieler ist weggeräumt, die Schallplatten sind wieder im Schrank verstaut. Gläser, Flaschen, Aschenbecher – alles ist verschwunden. Und der Boden glänzt genauso makellos wie die Glasflächen der Beistelltische.
Mit tief in den Taschen versenkten Händen schlendere ich an den Regalen entlang und studiere die nach Farbe und Größe sortierten Buchrücken. Da fällt mir ein silbern gerahmtes Familienfoto auf. Renate mit ihren Eltern. Im Alter von circa zehn Jahren steht sie, mürrisch in die Kamera blickend, zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter, die, soviel ich weiß, vor zwei Jahren gestorben ist. Schon als Kind war Renate eine Schönheit, hatte sie diesen hellen Teint und die dunkel glänzenden Haare. Während ich das Foto betrachte, fällt mir eine alte Geschichte ein, die sie mir mal im Internat erzählt hat und die ich längst vergessen hatte. Bis jetzt.
»Gut geschlafen?«
Ich drehe mich um und fühle mich ertappt. Renate steht im Wohnzimmer und blinzelt mich an. Sie trägt den gleichen Bademantel wie ich, hat aber eindeutig mehr Make-up aufgelegt. Trotz der Schminke kommt sie mir extrem blass vor. Offensichtlich ist die letzte Nacht auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen.
»Nicht so besonders«, antworte ich.
»Warum?«
»Zu viel Alkohol. Vermute ich.«
Sie lächelt. »Ja, so ist das. Man muss für alles bezahlen.«
»Sag mal ...«, fange ich an.
»Ja?«
»Hast du nicht einen Halbbruder?«
»Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Weiß nicht. Ist mir gerade eingefallen«, sage ich und stelle das Foto zurück ins Regal. »Hast du ihn je getroffen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das hat mich nie besonders interessiert.«
»Also, wenn ich im Alter von dreizehn Jahren zufällig erfahren hätte, dass ich einen Halbbruder habe ...«, setze ich an und werde von Frau Hoffschulte unterbrochen, die mit einem Tablett und zwei dampfenden Kaffeetassen hereinkommt.
»Du hast aber keinen«, sagt Renate und nimmt eine Tasse entgegen. Sie wartet, bis Frau Hoffschulte das Tablett abgestellt, den Raum wieder verlassen und die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hat.
»Ich habe wirklich andere Sorgen«, sagt Renate und geht ans Fenster.
Das verstehe ich nicht. Gestern Abend hat sie doch noch so getan, als gebe es keine Probleme, als habe der Mord an der jungen Verkäuferin nichts mit ihr zu tun, als sei der Überfall auf sie nichts weiter als eine etwas ausgefallenere SM-Session gewesen.
»Was hast du denn für Sorgen?«, frage ich.
»Ich lass mich scheiden.«
Bestürzt sehe ich sie an. Und genauso bestürzt registriere ich die Träne, die über ihr Gesicht läuft und eine dunkle Spur auf ihrer Wange hinterlässt.
»Warum das denn?«
»Da gibt es viele Gründe«, sagt sie.
»Geht er fremd?«
Sie schnieft.
»Mit wem?«
»Das ist doch egal.«
»Aber du weißt, mit wem?«
Sie nickt.
»Und ist es das erste Mal, dass er ...«
»Nein, das ist schon häufiger passiert. Meistens waren das One-Night-Stands. Aber es hatte nie etwas mit SM zu tun. Doch mit der ...«
»Hab ich das richtig verstanden?«, unterbreche ich sie. »Normaler Sex mit anderen Frauen ist okay, aber SM mit anderen Frauen ist nicht okay?«
Sie nickt heftig. »Wenn er mit irgendeiner Frau schläft, interessiert mich das nicht. Aber wenn er mit einer anderen SM hat, dann geht das viel tiefer, ist viel intensiver – und letztendlich viel verletzender für mich. Wir haben eine Absprache: keine anderen SM-Partner. Und daran hat er sich nicht gehalten.«
Ihre letzten Worte gehen in hemmungslosem Schluchzen unter. Ihre Schultern beben, ihre Hand, die die Tasse hält, zittert so, dass der Kaffee überschwappt. Mit wenigen Schritten bin ich bei ihr, nehme ihr die Tasse ab, umarme sie und halte sie ganz fest.
»Bist du sicher? Oder ist das nur eine Vermutung?«, frage ich leise.
»Ich weiß es. Ich weiß es.«
»Woher?«
»Das ist doch egal. Ich weiß es eben.«
Nur langsam beruhigt sie sich wieder. Währenddessen schnappen in meinem Hirn die
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