Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
es mit Sicherheit etwas sagen. Aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter.
Da höre ich draußen Stimmen. Eine davon gehört eindeutig Jochen! Ich gehe hinaus auf die Galerie und beuge mich weit über das Geländer. In der Eingangshalle steht ein Koffer. Als ich die Treppe hinunterlaufe, betritt Jochen die Halle. Sein Gesicht ist so grau wie sein Anzug, die Ränder unter seinen Augen sind tief und dunkel, seine Wangen eingefallen. Er wirkt gestresst und nervös. Kein Wunder, nach einer so langen Reise.
Als er mich sieht, verfinstert sich sein Gesicht. »Was machst du denn hier?«
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, flöte ich. »Hast du einen schönen Flug gehabt?«
Der Versuch, ihn aufzumuntern, geht schief. »Ich möchte wissen, was du hier machst?«, bellt er mich an.
»Renate hat mich eingeladen, hier zu wohnen«, sage ich. »Hast du was dagegen?«
Er läuft an mir vorbei und geht die Treppe zu den oberen Räumen hoch. Mann, hat der schlechte Laune. Aber dadurch lasse ich mich nicht einschüchtern. Ich folge ihm in sein Schlafzimmer. Jochen und Renate schlafen getrennt. Eine Unsitte, die einreißt, wenn man zu viel Platz hat.
Als Jochen mich bemerkt, dreht er sich gereizt zu mir um. »Was ist, Pia? Ich bin sehr müde.«
Und wahnsinnig sauer, denke ich.
»Ich habe ein Problem«, sage ich. »Und zwar geht es um den Vorschuss. Er ist noch nicht auf meinem Konto eingegangen und ich ...«
Er winkt ab. »Ich rufe gleich meine Sekretärin an. Sonst noch was?«
»Kennst du die blonde Verkäuferin aus Dracus Laden?«
Er verdreht die Augen. »Ja! Pia, tu mir den Gefallen und ...«
»Sie ist tot«, sage ich.
»Was?«
»Sie ist tot«, wiederhole ich.
Auch wenn ich das nicht für möglich gehalten hätte, aber sein Gesicht wird noch grauer und ich habe das Gefühl, als würde er in sich zusammensacken. Als würde etwas in ihm lautlos einstürzen. Er stolpert zu seinem Bett und setzt sich auf die Kante, so knapp, dass er fast abrutscht.
»Wie ist das passiert?«, fragt er und seine Stimme klingt, als käme sie von weit her.
»Sie wurde ermordet.«
»Von wem?«
»Das weiß man noch nicht.«
Jochen stöhnt leise auf. Da sitzt kein strahlender Held, kein Frauenverführer und Hochleistungssportler. Da sitzt nicht der Mann, der mich vor so vielen Jahren verlassen und gedemütigt hat. Wegen dem ich nächtelang in mein Kissen geheult habe. Da sitzt jemand, der fertig ist, völlig fertig. Ein bisschen tut er mir leid. Aber nur ein bisschen. Denn eins ist nach dieser Reaktion klar: Die Verkäuferin ist ihm nicht gleichgültig gewesen. Irgendetwas ist zwischen den beiden gelaufen. Womöglich ist sie diejenige gewesen, mit der er angeblich ein SM-Verhältnis hatte. Die Frau, von der Renate heute Morgen erzählt hat.
»Wie ist sie gestorben?«, fragt Jochen leise.
»Sie wurde erdrosselt.«
Die Details erspare ich ihm. Er macht nicht den Eindruck, als würde er die jetzt verkraften. Allerdings weiß ich auch nicht, ob er eine Diskussion über seinen Siegelring verkraften wird. Aber das muss ich riskieren.
Ich atme einmal tief durch und dann erzähle ich ihm die Geschichte. Wie und wo ich die Leiche gefunden und wie ich im Bademantel seinen Ring entdeckt habe. Als ich fertig bin, habe ich den Eindruck, dass er mir überhaupt nicht zugehört hat. Körperhaltung und Gesichtsausdruck sind völlig unverändert.
Dann sieht er hoch und mich an. Mit einem Blick, mit dem man eine ganze Stadt in Schutt und Asche legen könnte. »Wo ist der Ring?«
Ich zögere eine Hundertstelsekunde zu lang. »Bei der Polizei.«
Er lächelt. »Du hast ihn noch.«
Ich schüttele den Kopf.
»Bring ihn her!«
Ich schüttele den Kopf.
»Pia«, sagt er und wirkt auf einmal völlig gelöst und entspannt. »Du weißt doch, dass ich ein Sadist bin, nicht?«
Ich nicke.
»Möchtest du wissen, wie es sich anfühlt, eine Masochistin zu sein?«
Wieder schüttele ich den Kopf.
»Dann sei ein braves Mädchen und bring mir den Ring.«
Ich tobe. Ich bin kurz davor zu platzen, ich könnte ganz Münster zusammenbrüllen. Dieses verdammte Mobiliar in diesem Zimmer würde ich am liebsten zu Kleinholz verarbeiten. Es ist nicht zu glauben, Jochen hat mir tatsächlich den Ring abgenommen! Mit einem einzigen Blick hat er mich an die Kette gelegt. Und zum ersten Mal habe ich begriffen, was einen guten Sadisten ausmacht. Was Dominanz wirklich bedeutet. Wie ferngesteuert bin ich in mein Zimmer gegangen, habe den Ring geholt und ihn Jochen gebracht.
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