Blutnacht
sie Kontakte knüpfen können. Im Allgemeinen tun sie das auch. Offensichtlich ist Vassily hinausgeschlüpft.«
»Der schüchterne Typ?«, fragte Milo. »Der sich in seinem Zimmer verkriecht?«
»Ja. Aber nachts ist er gern im Garten herumspaziert. Als er mit dem Üben fertig war. Ganz allein.«
»Sind auch Gäste draußen rumgelaufen?«
»Wir raten davon ab, versuchen sie im Haus zu halten. Damit sie nicht über die Blumen trampeln und so. Aber wir stellen schließlich keine bewaffneten Wachen auf.«
»Keine bewaffneten Wachen«, sagte Milo. »Nur einen Mann vom Sicherheitsdienst.«
»Wegen der Nachbarn – sie ziehen es vor, dass sich auf der Bristol keine Gestapo-Atmosphäre breitmacht. Und eine Armee von Wächtern ist bisher nie nötig gewesen. Dies ist eines der sichersten Wohngebiete in der ganzen Stadt. Trotz Sie-wissen-schon-wem.« »Der einzige Zaun ist an der hinteren Grundstücksgrenze.«
»Richtig, hinter dem Tennisplatz«, sagte Loh.
»Wie groß ist das Grundstück?«
»Weniger als ein Hektar.«
»Wie lautete der Auftrag des Sicherheitsmanns?«
»Für Sicherheit zu sorgen, was auch immer das heißen soll. Ich bin überzeugt, dass er nicht auf irgendwelche … ernsten Ereignisse vorbereitet war. Das war nicht gerade ein Rapkonzert. Das Durchschnittsalter des Publikums muss bei fünfundsechzig gelegen haben. Wir reden von Leuten, die sich perfekt zu benehmen wissen.«
»Gilt das auch für die zahlenden Teilnehmer?«
»Wenn es um die Konzerte geht, kann Stefan ein kleiner Zuchtmeister sein. Er besteht auf absoluter Ruhe. Und sein Geschmack tendiert zu beruhigender Musik. Chopin, Debussy, Sachen dieser Art.«
»Teilen Sie Mr. Szabos Geschmack?«
Loh grinste. »Ich stehe mehr auf Technorock und David Bowie.«
»Sind Konzerte mit David Bowie für das Odeon geplant?«
Loh kicherte. »Mr. Bowie würde unseren finanziellen Rahmen sprengen. Und Stefans Empfindsamkeit würde diese Erfahrung nicht überstehen.« Er schob eine elegante schwarze Manschette zurück und zog eine elegante schwarze Armbanduhr zu Rate.
»Sehen wir uns Levitchs Zimmer an«, sagte Milo.
Als wir die Treppe hochgingen, erklärte Milo: »Ein großes Haus.«
Loh sagte: »Stefans Familie ist 1956 aus Ungarn geflohen. Er war ein Teenager, aber sie haben es fertig gebracht, ihn in einen großen Reisekoffer zu zwängen. Das bedeutete Tage ohne Essen oder Toilette, nur ein paar Luftlöcher zum Atmen. Ich würde sagen, er hat ein Anrecht auf seinen Platz, finden Sie nicht?«
Die rechte Seite des Korridors wurde von zwei riesigen Schlafzimmern eingenommen – das von Szabo und das von Loh. Durch die offenen Türen konnte man Brokat und Damast, poliertes Holz und weiches Licht erkennen. Auf der linken Seite lagen drei Gästesuiten, die weniger prächtig, aber dennoch elegant eingerichtet waren.
Das Zimmer, in dem Vassily Levitch die letzten beiden Nächte verbracht hatte, war mit einem Klebeband versperrt. Milo zerriss das Band, und ich folgte ihm ins Zimmer. Tom Loh blieb im Türrahmen stehen und fragte: »Was soll ich tun?«
»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, Sir«, sagte Milo. »Sie können sich jetzt gern Ihren eigenen Angelegenheiten widmen.«
Loh ging wieder die Treppe hinunter.
Milo sagte: »Bleib da stehen, während ich hier alles durcheinander bringe, wenn es dir nichts ausmacht. Die Beweiskette und so weiter.«
»Man kann nicht vorsichtig genug sein«, erwiderte ich. »Besonders angesichts von Sie-wissen-schon-wem.«
Die mit roter Seide tapezierte Gästesuite war mit einem großen Himmelbett, zwei Regency-Nachttischen und einer verzierten italienischen Kommode mit Intarsien eingerichtet. Die Kommodenschubladen waren leer, der Wandschrank ebenfalls. Vassily Levitch hatte aus seinem schwarzen Nylonkoffer gelebt. Sogar seine Toilettenartikel waren in dem Koffer geblieben.
Milo untersuchte den Inhalt der Brieftasche des Pianisten und ging die Taschen jedes Kleidungsstücks durch. In einem Reisenecessaire befanden sich ein Aftershave, ein Nassrasierer, Advil, Valium und Pepto-Bismol. Ein Papierumschlag in einer Seitentasche des Koffers enthielt fotokopierte Kritiken anderer Konzerte, die Levitch gegeben hatte. Die Kritiker priesen den Anschlag und die Phrasierung des jungen Mannes. Er hatte die Steinmetz Competition, die Huribank Competition und die Great Barrington Piano Gala gewonnen.
Kein Führerschein. Einem Ausweis zum Einlösen von Schecks zufolge war er siebenundzwanzig Jahre alt.
»Null
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