Blutnebel
»Du meinst also, du hast immer nur ein Licht gesehen?«
»Manchmal war nur eines da, und manchmal sind gleich mehrere herumgehüpft. Genau wie Leuchtkäfer. Das Größte war vielleicht zehn Zentimeter lang oder so. Doch die Kleineren, die ich gesehen hab, waren nur halb so groß.«
»Und die Lichter waren ganz weiß?«
Robbie wollte schon zum Sprechen ansetzen, hielt jedoch inne. »Ehrlich gesagt, Mr Stryker, ich würde lügen, wenn ich jetzt behaupten würde, dass ich darauf geachtet habe. Wegen der Lichter hab ich eben gedacht, dass ein paar von den anderen da wären, und dann hab ich darüber nachgedacht, nicht darüber, wie die Lichter ausgesehen haben.«
Dev drang nicht weiter in ihn. Becky hatte unerschütterlich behauptet, dass die Lichter von einem violetten Ring umgeben gewesen seien – doch das würde er Robbie nicht auf die Nase binden und ihn so in seiner Meinung beeinflussen. Stattdessen fragte er ihn ausführlich über den Nebel aus, der dem Jungen zufolge aus dem Boden aufgestiegen war – beginnend bei seinen Füßen – und sich um ihn wand, ehe er sich über das ganze Gebiet ausbreitete.
»Ich hab gehört, Butch Tippon hat den roten Nebel auch gesehen«, fügte Robbie hinzu. Er legte eindeutig Wert darauf zu beweisen, dass er sich nichts einbildete. »Und Becky hat gesagt, Silas Parker und Wally Greenberg hätten ihn ebenfalls gesehen.«
Dev hatte die Namen der drei jungen Männer schon gehört, ja sogar bereits mit ihnen gesprochen sowie mit mindestens fünf anderen, die Ähnliches behauptet hatten. Falls man ihren Angaben glauben konnte, hatte der rote Nebel angesichts ihres Standorts zum damaligen Zeitpunkt ein Gebiet von mindestens fünf Meilen außerhalb der Stadt überzogen. Mittlerweile frühstückte Dev jeden Morgen im Henhouse, da es keinen besseren Ort gab, um interessante Brocken wie diesen aufzuschnappen, denen er dann weiter nachgehen konnte.
Als der Junge auf die Uhr sah, begriff Dev den Wink mit dem Zaunpfahl und schaltete den Recorder aus. »Du musst wahrscheinlich bald zurück zur Arbeit.«
Der Junge hob die Limonadenflasche und trank daraus, als müsste er beim Burschenschaftsabend einen Maßkrug auf ex leeren. »Ja«, sagte er schließlich, nachdem er die Flasche abgesetzt hatte. »Und mein Daddy kontrolliert mich zusätzlich, damit ich auch bestimmt den ganzen Abend da bin.« Er klang niedergeschlagen. »Ich habe nämlich Hausarrest, weil ich nach Einbruch der Dunkelheit zum Ashton’s Pond gegangen bin. So ein Schwachsinn. Von meinen Freunden hat keiner Hausarrest gekriegt.«
In diesem Punkt hatte Robbie Devs volles Mitgefühl. Er hatte in seiner Jugend auch oft genug diese elterliche Strafe aufgebrummt bekommen. »Das geht vorbei. Du hast noch den größten Teil des Sommers vor dir.«
»Ja.« Ganz und gar nicht überzeugt, stopfte Robbie Joe den übrigen Schokoriegel und eine Tüte Sonnenblumenkerne in die Hosentasche und stand auf. Dev hoffte, das würde reichen, bis der Junge mit der Arbeit fertig war. Doch nach dem, was er gerade mit angesehen hatte, hegte er daran schwere Zweifel.
»War gut, mit dir zu reden.« Dev klopfte dem Jungen auf die Schulter, während Robbie Joe seinen Abfall zerknüllte und ihn gekonnt in den nächsten Mülleimer katapultierte.
»War nett, Sie kennenzulernen, Mr Stryker.«
Dev zuckte erneut innerlich zusammen und wandte sich zum Gehen. Dass ihn ein Teenager so titulierte, war ein knallharter Beleg dafür, wie die Zeit verging.
Es gab natürlich noch andere Belege, über die er auf dem Rückweg zu Benjamin Gorders Haus nachsann. So war er doch tatsächlich in der Stadt auf ein paar unbekannte Gesichter gestoßen, seit er vor fünf Tagen hergekommen war, obwohl er stets drei- oder viermal im Jahr seinen Großvater besucht hatte.
Andere dagegen hatte er vermisst. Mike und Mona Reed waren in den Ruhestand gegangen und nach Chattanooga gezogen. Crystal Meinders hatte – zum dritten Mal – geheiratet und wohnte nun mit ihrem Mann, einem Fernfahrer, in Clayton. Da ihm Crystal in der siebten Klasse seinen ersten Zungenkuss und eine umwerfende Lektion über die weibliche Anatomie verabreicht hatte, dachte er freundlich genug an sie, um ihr diesmal viel Glück zu wünschen.
Als er an einem altbekannten Gartenzaun vorüberkam, wurde ihm das Herz ein wenig schwer. Früher einmal hatte er einen Stock daran entlangrattern lassen, nur um den Krach zu hören. Freilich wurde er regelmäßig dafür ausgescholten, und eines Sommers hatte er ihn
Weitere Kostenlose Bücher