Blutnetz
gleich bei dir.«
»Nimm den Bühneneingang.«
Bell eilte die prachtvolle Treppe des Knickerbocker immer drei Stufen auf einmal nehmend hinunter und löste ein Durcheinander aus Hupsignalen, Warnglocken und wütenden Rufen aus, als er sich durch die träge dahinfließende Lawine aus Automobilen, Straßenbahnwagen und Pferdekutschen schlängelte, die den Broadway verstopfte. Sechzig Sekunden nachdem er den Telefonhörer eingehängt hatte, schlug er mit der Faust gegen die Bühnentür des Victoria.
»Miss Morgan wartet im Zuschauerraum auf Sie, Mr Bell. Dort entlang. Gehen Sie bitte leise hinein. Es wird gerade geprobt.«
Ein schnelles, rhythmisches Klappern hallte von der Bühne herüber, und als er die Tür öffnete, entdeckte er zu seiner Überraschung, dass das Geräusch von einem kleinen Jungen und einem großen Mädchen erzeugt wurde, die in Schuhen mit Holzsohlen tanzten. Er atmete erleichtert auf, als er Marion allein, gesund und unversehrt in der achten Reihe des teilweise verdunkelten Saals sitzen sah. Sie presste einen Finger auf die Lippen. Bell huschte den Mittelgang hinauf und ließ sich neben ihr nieder. Sie nahm seine Hand, drückte sie dankbar und flüsterte: »Oh, mein Liebling, ich bin so froh, dass du hier bist.«
»Was ist geschehen?«
»Ich erzähl es dir gleich. Sie sind fast fertig.«
Das Orchester, das still gewartet hatte, stimmte ein Crescendo an, und der Tanz war beendet. Die Kinder wurden sofort von dem Regisseur, dem Bühnenmeister, von Kostümbildnern und von ihrer Mutter umringt.
»Sind sie nicht wunderbar? Ich habe sie im Orpheum Theatre in San Francisco gefunden. Es gehört zur Kette der besten Varietètheater. Ich habe ihre Mutter überredet, sie in meinem neuen Film auftreten zu lassen.«
»Was ist mit deinem Film über die Bankräuber?«
»Die Freundin des Detektivs hat sie geschnappt.«
»Das hatte ich fast erwartet. Was ist los? Du klingst irgendwie nicht wie sonst. Was ist passiert?«
»Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich bin ich albern, aber ich hielt es für vernünftig, dich anzurufen. Hast du jemals Katherine Dee kennengelernt?« »Sie ist eine Freundin von Dorothy Langner. Ich habe sie mal von weitem gesehen. Aber richtig kennengelernt habe ich sie nicht.«
»Lowell hat mich anlässlich des Stapellaufs der Michigan mit ihr bekannt gemacht. Sie meinte, sie würde sehr gern das Filmstudio besuchen. Und ich war drauf und dran, ihr den Gefallen zu tun. Mir lag eine Einladung praktisch auf der Zunge. Sie sieht aus, als wäre sie eine dieser Erscheinungen, wie die Kamera sie liebt - du weißt schon, ich habe es dir mal erklärt, großer Kopf, fein geschnittenes Gesicht, ein zierlicher Oberkörper. So ähnlich wie dieser Junge, den du gerade tanzen sehen konntest.«
Bell schaute zur Bühne. »In meinen Augen sieht er wie eine Gottesanbeterin aus.«
»Ja, der schmale Kopf, die großen, leuchtenden Augen. Du solltest ihn mal lachen sehen.«
»Wenn ich richtig verstehe, hast du Katherine Dee nicht eingeladen. Warum hast du es dir anders überlegt?«
»Sie ist irgendwie seltsam.«
»Wie meinst du das?«
»Nenn es, wie du willst. Intuition. Instinkt. Irgendetwas stimmt mit ihr nicht, irgendetwas wirkt nicht echt.«
»Ein Bauchgefühl sollte man niemals ignorieren«, sagte Bell. »Man kann seine Meinung ja später immer noch ändern.«
»Vielen Dank, Liebling. Ich komme mir ein wenig töricht vor, und dennoch ... als ich in San Francisco war, kam sie nach Fort Lee heraus. Uneingeladen. Sie tauchte einfach auf. Und heute Morgen war sie schon wieder da.«
»Was hat sie gesagt?«
»Es gab gar keine Gelegenheit dazu, etwas zu sagen. Ich war unterwegs zur Fähre, um diese Kinder und ihre Mutter zu treffen, die außerdem ihre Managerin und sehr ehrgeizig ist. Ich habe Katherine Dee nur zugewinkt und meinen Weg fortgesetzt. Sie rief mir zu, sie könne mich mitnehmen. Ich glaube, irgendwo wartete ein Automobil auf sie. Ich ging aber einfach weiter und nahm die Fähre. Isaac, ich mache mich Sicherlich zum Gespött. Ich meine, Lowell Falconer kennt sie schließlich. Ihm ist sie offenbar nicht seltsam vorgekommen. Andererseits bezweifle ich, dass Lowell überhaupt jemand in einem Damenrock seltsam vorkommen kann.«
»Wer hat dir erzählt, dass sie erschienen ist, während du in San Francisco warst?«
»Mademoiselle Duvall.«
»Was hält sie von Katherine?«
»Ich glaube, sie hat das Gleiche gespürt wie ich, wenn auch nicht so deutlich. Im Studio tauchen öfter
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