Blutnetz
eine Absage der Zeremonie wurde nicht einmal theoretisch in Erwägung gezogen. Zu viel hinge von dem Stapellauf ab, hatte Captain Falconer erklärt, und alle Beteiligten würden aufs Schärfste dagegen protestieren. Die New York Ship wolle es sich auf keinen Fall nehmen lassen, die Michigan noch vor der South Carolina von Cramp's Shipyard, deren Fertigstellung nur noch wenige Wochen in Anspruch nehmen würde, zu Wasser zu lassen. Die Navy wollte den Rumpf endlich schwimmen sehen, um den weiteren Ausbau in Angriff nehmen und beenden zu können. Außerdem wagte niemand im Kabinett, Präsident Roosevelt über eine Verzögerung ins Bild zu setzen.
Die Zeremonie sollte um Punkt elf Uhr beginnen. Captain Falconer hatte Bell unmissverständlich klargemacht, dass der Stapellauf pünktlich stattfinden werde. In weniger als einer Stunde würde der Dreadnought entweder heil und unbehelligt auf der Helling ins Wasser gleiten, oder der deutsche Saboteur würde zuschlagen und unter den unschuldigen Zuschauern ein Blutbad anrichten.
Eine Marine-Blaskapelle stimmte ein Medley mit Kompositionen von John Philip Sousa an, und auf dem Podium am Bug des Schlachtschiffrohbaus fanden sich Hunderte von prominenten Gästen ein, die eingeladen worden waren, um aus nächster Nähe verfolgen zu können, wie die Champagnerflasche am Schiffsrumpf zerschellte. Bell entdeckte den Innenminister, drei Senatoren, den Gouverneur von Michigan und mehrere Mitglieder von Präsident Roosevelts sportlichem »Tennis-Kabinett«.
Die obersten Bosse der New York Ship kamen zusammen mit Admiral Capps, dem Chefkonstrukteur der Navy, die Treppe herauf. Anstatt mit der Werftleitung unterhielt sich Capps lieber mit Lady Fiona Abbington-Westlake, der Ehefrau des britischen Marine Attachés, einer bildschönen Frau mit einer schimmernden Flut kastanienbraunen Haars. Isaac Bell musterte sie verstohlen. Die Van-Dorn-Rechercheure, die mit dem Spionagefall um Hull 44 befasst waren, hatten berichtet, dass Lady Fiona mehr Geld ausgab, als ihr Mann verdiente. Schlimmer noch, sie zahlte einem Franzosen namens Raymond Colbert Schweigegeld. Niemand wusste, was Colbert gegen sie in der Hand hatte oder ob es damit zusammenhing, dass ihr Mann Geheimnisse der französischen Marine meistbietend verkaufte.
Das deutsche Oberhaupt, Kaiser Wilhelm II., wurde durch einen von einer Säbelnarbe gezeichneten Militärattaché, Leutnant Julian Van Stroem, vertreten, der erst vor kurzem aus Deutsch-Ostafrika zurückgekehrt war. Verheiratet war er mit einer amerikanischen Freundin Dorothy Langners. Plötzlich teilte Dorothy selbst in dunkler Trauerkleidung die Menge. Die lebhafte rothaarige junge Frau, die ihm schon im Willard Hotel aufgefallen war, begleitete sie. Katherine Dee, so hatte die Rechercheabteilung berichtet, war die Tochter eines irischen Auswanderers, der nach Irland zurückgekehrt war, nachdem er mit dem Aufbau katholischer Schulen in Baltimore ein Vermögen verdient hatte. Da er schon wenig später verstorben war und Katherine damit zu einer Waise gemacht hatte, hatte diese eine Klosterschule in der Schweiz besucht.
Der attraktive Ted Whitmark, der ihnen dichtauf folgte, schüttelte Hände, klopfte auf Rücken und verkündete mit einer Lautstärke, die vom Glasdach des Werftschuppens widerhallte: »Die Michigan wird Uncle Sams bestes Kampfschiff sein.« Während Whitmark, ein leidenschaftlicher Spieler und ebenso intensiver Trinker, in seinem Privatleben des Öfteren eine ziemlich jämmerliche Figur abgab - zumindest ehe er Dorothy kennengelernt hatte, hatte die Rechercheabteilung mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass er besonders geschickt darin war, lukrative Verträge mit der Regierung abzuschließen.
Wie es für die inzestuösen Beziehungen in der Clique der Industriellen, Politiker und Diplomaten, die um die »Neue Navy« herumschwirrten, typisch war, hatten er und Dorothy Langner sich während eines von Captain Falconer veranstalteten Muschelessens kennengelernt. Dazu hatte Grady Forrer in der Rechercheabteilung der Van Dorn Agency einmal bissig bemerkt: »Der einfachste Teil war festzustellen, wer mit wem ins Bett steigt; schwieriger ist jedoch, zu erfahren warum. Wobei das Warum von Geld über vorzeitige Beförderung und Spionage bis zu Sabotage reichen kann.«
Bell sah, wie der Anflug eines Lächelns um Dorothys Lippen spielte. Er folgte ihrem Blick und bemerkte, wie der Schiffsingenieur Farley Kent ihr Lächeln mit einem Kopfnicken erwiderte. Dann legte Kent
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