Blutportale
Saskia Lange dachte wirklich, ihm würde irgendetwas verborgen bleiben, was auch nur am Rand mit der union des lames zu tun hatte. Levantins Computer meldete eine eingehende E-Mail; er öffnete sie. Das Gesicht der Französin blickte ihn an, darunter stand ihr richtiger Name, den er bereits kannte. »Justine Marie Jeanne Chassard«, las er halblaut vor. Daneben reihte sich eine Liste von schwersten Vergehen, wegen denen sie gesucht worden war, bis man ihren Tod offiziell verkündet und sie aus den aktuellen Fahndungslisten gelöscht hatte. Etwas Besseres hätte Chassard gar nicht passieren können: Es ging um Gewaltverbrechen aller Art, Vandalismus, Brandstiftung, außerdem um brutale Morde an diversen Frauen und Männern, die in keinerlei Beziehung zueinander standen, und einige Entführungen. Verblüffend fand er, dass bis auf zwei Ausnahmen sämtliche Entführungsopfer wieder aufgetaucht waren. Unversehrt. Das passte so gar nicht ins Muster. Ging es um Lösegeld?
Wenn Chassard eine skrupellose Killerin war, weswegen ließ sie ihre Opfer nach der Zahlung frei, statt sie einfach zu erschießen und die Spuren zu verwischen?
Der Kontakt zum Orden der Schwesternschaft vom Blute Christi wurde bestätigt. Jeder Tastendruck, jede aufgerufene Website, jede E-Mail, alles, was Justine dort oben am Computer getan hatte, war von seinen Leuten mitverfolgt worden. »Sieh an«, murmelte Levantin belustigt. »Die tapferen Schwestern sind tatsächlich noch immer im Geschäft.« Das hätte er wirklich nicht gedacht.
Allerdings musste er auch zugeben, dass er sie in den letzten einhundert Jahren aus den Augen verloren hatte. In ihrem Krieg jagten sie die Fußsoldaten des Bösen. Er suchte nach den Eingangsportalen in deren Burgen.
Justine hatte in der Vergangenheit also Wandelwesen für den Orden gejagt, sie zur Heilung zu den Nonnen gebracht oder getötet. Levantin lachte amüsiert auf. Die Französin und der Orden passten zusammen wie Feuer und Eis. Eine merkwürdige Allianz.
Levantin studierte weiter das Dossier, das man ihm über Justine zusammengestellt hatte. Es gab keine lebenden Angehörigen mehr, Vater und Mutter waren schon vor einiger Zeit gestorben, ihr Bruder, Eric von Kastell, bei einem Unfall vor zwei Jahren in Leipzig. Die Vermögenswerte der Familie waren riesig gewesen. Die Gelder und Besitztümer flössen in eine Stiftung, die wiederum von einem Herrn de Lavall geleitet wurde. Dem gleichen de Lavall, dem das Haus in Hamburg gehörte, in dem Justine, Saskia und Will vorübergehend Zuflucht gesucht hatten. So viele Zufälle gab es nicht. Levantins Einschätzung nach war Eric von Kastell so tot wie Justine: gar nicht. Diese Familie hielt einige Überraschungen auf Lager.
Levantin hetzte mit ein paar E-Mails seine Informanten los, um mehr über diesen verstorbenen Bruder und Justines Entführungsopfer herauszufinden. Nur um sicherzugehen und die Fährten nicht aus den Augen zu verlieren. Man wusste nie, wozu es gut sein würde.
Auch das Nonnenkloster ließ er nun überwachen. Sollte sich herausstellen, dass sich die Schwestern in die Auseinandersetzung um die Artefakte einmischten, würde er sie ausmerzen. Er mochte es nicht, wenn seine Großzügigkeit in der Vergangenheit nicht honoriert wurde. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sie damals schon zu vernichten. Wie war noch der Name der alten Frau gewesen, die er damals traf - eine schrecklich ernsthafte Person, die ihn unbedingt zu dem bekehren wollte, was sie den wahren Glauben nannte. Marai? Satai? Irgendein ungewöhnlicher Name. Levantin sah wieder auf das Obstmesser, an dessen Spitze das getrocknete Blut haftete.
»Wo war diese Zerstreuung in den letzten Jahrhunderten? Es wäre weniger langweilig in diesem Gefängnis gewesen«, flüsterte er. Belualiten und Consciten, die Schwesternschaft, zwei UnTote, von denen zumindest die eine ein interessantes Geheimnis hatte, und nicht zu vergessen seine kleine Fechtgegnerin, die endlich das ersehnte Werkzeug für sein sehnlichstes Vorhaben sein konnte ... Es war etwas geboten im einundzwanzigsten Jahrhundert!
Levantin beschlich das Gefühl, dass er hier gerade den Schleier von mehr als nur einem Geheimnis lüftete. Es wunderte ihn auch nicht, als in den Radionachrichten davon gesprochen wurde, dass zahlreiche Hamburger Polizeibeamte unter Quarantäne gestellt worden waren und man sie in einer Seuchenabteilung beobachtete. Es wurde von einer »Tropenkrankheit« gesprochen. Der Sender rief im Namen des Senats die
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