Blutportale
bestellte sich ein Cheddar-Schinken-Sandwich und ein Murphy's, eines der typisch irischen Stout-Biere. Dabei sah sie sich immer wieder in der Bar um und hielt Ausschau nach möglichen Feinden. Sie hoffte sehr, dass Gregs Verschwinden sein Rudel lange genug beschäftigen würde, bis sie außer Landes waren. Viele Wandler hielten innerhalb ihrer Art zusammen wie eine große Familie. Sie dagegen war immer eine einsame Wölfin gewesen. Daran konnte auch das Zwangsrudel, zu dem sie im Moment gehörte, nichts ändern. Die Barkeeperin brachte ihr das Bier und stellte das Sandwich vor ihr ab. »Slainte«, wünschte sie.
Justine bedankte sich, trank einen Schluck und biss vom Brot ab. Wieder wunderte sie sich, wie schmackhaft das Essen war. Nach ihrem Höllentrip genoss sie jeden Bissen, jeden Schluck, jeden Atemzug. Ihr Hals schien enger zu werden, und das Mal an ihrem Arm erwärmte sich. Immer wenn sie an ihr Martyrium dachte, schien ihr Dienstherr dies zu merken und ließ sie wissen, dass er immer noch Macht über sie besaß. Diese Verbindung musste beendet werden! Auch wenn es bedeutet, dass ich so ende wie mein Bruder, dachte sie und sah in das pechschwarze Bier. Schwarz wie der unendliche Raum, durch den sie getrieben war, kaum dass er sie aus dem brennenden Haus gerettet hatte. Ein Raum voller Nichts: kein Licht, keine Sterne, keine Geräusche, keine Hoffnung. Er hatte sie darin treiben lassen, unendlich lange, bis sie dachte, sie verlöre endgültig den Verstand.
Und dann hatte der Spaß erst richtig begonnen. Für ihn jedenfalls.
Doch Justine hatte erfahren müssen, dass es nicht der Schmerz war, mit dem er sie am meisten foltern konnte. Nicht alles, was sie erlebt hatte, war ekelhaft gewesen. Und die Gewissheit, dass sie sich in seinen Fängen wieder und wieder selbst verraten hatte, war die größte Qual für sie. Hastig trank sie das Bier leer und bestellte mit einer Geste das nächste. Wieder kostete sie von ihrem Essen. Der Geschmack sollte die aufsteigenden Erinnerungen vertreiben. Kaum stand das Bier vor ihr, stürzte sie es schon hinab und orderte das dritte.
Es war nicht klug, in ihrer Lage Alkohol zu trinken. Aber klug war Justine nach eigener Einschätzung niemals gewesen. Clever ja, klug äußerst selten.
Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie die Marken auf den fünfzig Flaschen Whisky hinter der Bar las. Es wirkte tatsächlich. Die Namen waren größtenteils zungenbrecherisch, und meistens hatte sie nicht einmal eine leise Vorstellung davon, wie man sie aussprach. Die Barkeeperin erklärte ihr geduldig eine nach der anderen, während sie aß und lauschte. Nur nicht an die Hölle denken müssen!
»Sie sind eine sehr interessante Frau«, sagte eine männliche Stimme in perfektem Französisch. Justine blieb der Bissen im Hals stecken. Gerade eben hatte sie sich doch noch mit einem Blick versichert, dass es keinen anderen Menschen in ihrer Nähe gab, der sie bei ihrer Nahrungsaufnahme störte. Ein Rest von Wolfsverhalten.
Sie schluckte angestrengt und sah den Mann an, der sich ihr hatte nähern können, ohne dass sie etwas davon mitbekam. Als Werwölfin wäre ihr das nicht passiert, jemanden so einfach zu übersehen.
Justine konnte ihr Erstaunen nicht verbergen, als sie den Fremden betrachtete. »Merde«, entfuhr es ihr, und sofort kam ihr ein intuitiver Gedanke: der Maitre! Von der Beschreibung her musste es sich um ihn handeln. Das Gelbliche in seinen Augen war das sicherste Indiz dafür. Seine Statur, das Auftreten, das attraktive Äußere - es passte alles. »Finden Sie?«
Er setzte sich ungefragt neben sie an den Tresen. »Schauen Sie sich an: Sie sind tot und haben für eine Verstorbene dennoch ordentlichen Appetit.«
Justine senkte die rechte Hand, in der sie das Cheddar-Schinken-Sandwich hielt, und legte ihr Essen langsam auf den Teller zurück. Da er sie nicht angriff, hatte er offenbar andere Gründe, sich mit ihr zu beschäftigen. Ihre Neugier erwachte.
»Sie sind der Maitre«, stellte Justine fest, nahm einen Schluck aus ihrem Glas. »Sie sind Justine Marie Jeanne Chassard. Ihr Bruder heißt Eric von Kastell und nennt sich nun de Lavall. Sie denken, er wohnt immer noch in München, aber da täuschen Sie sich«, sagte er freundlich, ohne die Augen von ihr zu nehmen. »Seine Münchner Nummer ist auf den neuen Anschluss umgeleitet.« Er bekam von der Barkeeperin - scheinbar unaufgefordert - ein Bier hingestellt. »Außerdem gehören Sie der Schwesternschaft vom Blute Christi an, ohne
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