Blutportale
erwarten durfte. Doch nichts passierte. Was ist, wenn ich hier gestrandet bin, schoss ihm ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf, und nicht in die Realität zurückkehren kann? Als hätten Wills Gedanken damit die Kontrolle über den Körper wieder an seinen rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben, setzte sich der Mann ruckartig in Bewegung. Er trat hinaus auf die Straße, an den Karren, und suchte die Räucherpfannen heraus, die bereits mit Stroh und Reisig sowie dicken Klumpen Pech gefüllt waren. Er entzündete die Pfannen, trug sie nacheinander quer durch das ganze Haus und füllte die Kammern eine nach der anderen mit dem Rauch; dabei hustete und ächzte er unentwegt, und obwohl Will keine der Bewegungen selbst kontrollierte, spürte er doch das Brennen in den Lungen.
Nachdem der Eingang des Hauses mit einem Balken zugenagelt war, trat der Mann erneut an den Karren. Mit »Anschlag« hatte der Medikus ein Stück Pergament gemeint, auf dem zu lesen stand, dass das Haus im Namen des Magistrats von Venedig und des Dogen wegen der Pest unter Quarantäne gestellt war und niemand hineindurfte; auch das Plündern war verboten. Will las das Datum: November 1630. Nachdem der Mann das Schriftstück an das Haus genagelt hatte, warf er den Hammer in den Karren und ließ seinen Blick erschöpft schweifen. Es war gespenstisch leer und einsam in den Gassen, in denen viele, erschreckend viele Türen vernagelt waren. Das Wasser plätscherte gegen das steinerne Kanalufer, ein schweigender Gondoliere steuerte sein langes schmales Boot durch den milchigen Schleier, der aus Nebel und Rauch bestand. Charon auf dem Styx, umgeben vom Totenreich.
»Was zum Teufel mache ich hier?« Kaum hatte Will dies gedacht, hörte er es auch aus dem Mund des Mannes. Ohne es zu wollen, hatte er wieder die Kontrolle über diesen Giuseppe an sich gerissen. Immerhin konnte er nun wütend gegen das Rad des Karrens treten. »Wie komme ich wieder zurück?«, fragte er mit der rauhen Stimme des Italieners. Das letzte Mal hatte die Vision von selbst geendet, aber derzeit spürte er nichts, was auf eine Rückkehr hindeutete. »Psst, Giuseppe!«
Er drehte sich um und sah einen Mann in einem langen grauen Umhang und mit einer schwarzen Maske vor dem Gesicht hinkend auf sich zukommen. Unwillkürlich legte er eine Hand an den Dolchgriff. »Was?«
Der Mann blieb vor ihm stehen, langte unter seinen Mantel und drückte ihm einen faustgroßen Tiegel in die Hand. »Hier. Heute wirst du im Calle del Paradiso unterwegs sein«, sagte er gepresst. »Streich es diesmal nicht nur auf die Unterseite der Türklopfer und an die Klinken, sondern auch auf die Wände, vor denen es stark nach Urin stinkt; da stützen sich die Männer gern ab. Aber schmier nicht zu dick, sonst fällt es sofort auf.« Will nahm den Tiegel an sich. »Was ist das?«
»Was das ...?« Der Mann lachte auf, brach abrupt ab und legte eine Hand eng an den Körper, als stützte er sich selbst. »Ist das dein Sinn für Spaße?« Er griff erneut unter den Mantel, nestelte daran herum und brachte einen länglichen schmalen Koffer zum Vorschein. »Aber bevor du die Pestsalbe verteilst, bring das hier in die Riva del Carbon zum Palazzo von Partello. Du wirst erwartet.« Der Mann kam ihm ganz nahe, dabei blieb sein Oberkörper leicht vornübergebeugt. »Es ist wichtig, Giuseppe. Verteidige es mit deinem Leben und liefere es unter allen Umständen dort ab«, stöhnte er mehr, als er sprach.
Will wagte nicht weiter zu fragen. Er nahm auch die große Kassette an sich, legte sie auf den Karren und breitete ein Tuch darüber. Dabei fiel sein Blick auf das Pflaster. Um die Schuhe des Mannes hatte es sich rot gefärbt. Der Maskierte verlor Blut! »Du bist...«
»... so gut wie tot. Die Wandler haben mich erwischt.« Der Maskierte schlug den Mantel zurück und zeigte seine Wunde; scharfe Krallen hatten seine rechte Seite aufgeschlitzt, aus unzähligen Schnitten rann der Lebenssaft. »Sie haben die Blockade durchbrochen und sind hier. Deswegen musst du das Schwert zu Partello bringen! Nur dort ist es in Sicherheit!« Er brach zusammen und hielt sich an Wills rechtem Oberschenkel fest. »Ist es nicht eine Ironie des Schicksals? Das Wasser hat uns alle vor den Blutsaugern beschützt, aber jetzt macht es uns zu Gefangenen dieser Stadt und zur leichten Beute für die Wandler, die die Rückkehr des Herrn verhindern wollen.«
Hinter sich hörte Will leises Trappeln. Das waren keine menschlichen Schritte. »Sie kommen!
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