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Blutportale

Blutportale

Titel: Blutportale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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als Puffer zwischen seiner Haut und ihrer lagen. Was hatte sie nun schon wieder angerichtet? In der schwarzen Unendlichkeit schwebte eine riesige Brille vor Will und drehte sich dabei langsam um die eigene Achse. Das Gestell erinnerte ihn an Fotografien vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts; eines der Gläser war zur Hälfte gesplittert.
    In dem zerstörten Glas wurde ein fellbehängter Mann sichtbar; er hüpfte hin und her, schrie etwas in einer unbekannten Sprache, schwang einen Lederbeutel und warf sich schließlich auf den Boden. Es schien ein Anbetungsritual zu sein, in das hinein unvermittelt das Harfenspiel eines Wahnsinnigen erklang, zu dem ein Mann mit einer verführerischen Stimme etwas rezitierte.
    Will schwebte inmitten dieses Bild- und Klanggewitters, gegen das er sich nicht wehren konnte. Er versuchte, die Hände schützend über die Ohren zu legen, aber er spürte seinen Körper nicht. Auf einmal erschlug der dröhnende Bronzedonner einer tiefen Kirchenglocke sämtliche Geräusche und Stimmen, fegte durch Will hindurch und ließ ihn taub und zitternd zurück. Die Brille verschwand. Er blieb allein in der Dunkelheit zurück, hilflos, und fürchtete sich schrecklich. Aus weiter, unendlich weiter Ferne näherte sich langsam, ganz langsam lauter werdend, die dunkle Stimme eines Mannes, der in einer fremden Sprache betete, die Will russisch vorkam. Es klang monoton, sich unentwegt wiederholend; doch nach und nach fielen weitere Männer ein, und aus dem schlichten Gebet wurde ein vielstimmiger, bewegender Gesang. Will ahnte, dass das, was er gerade wahrnahm, für ihn von Bedeutung sein würde. Er rang seine Furcht nieder und versuchte, sich so viel wie möglich einzuprägen: Geräusche, Wortfetzen, Begriffe, so fremd und bedeutungslos sie ihm auch erschienen.
    Während der Gesang weiter anschwoll, begann hinter Will ganz sacht Wasser zu rauschen, dann sirrte etwas durch die Luft. Will schauderte: Genau so hatte das zuschlagende Schwert des Dämons geklungen!
    Nun drängten sich die Harfentöne wieder in den Vordergrund, dieses Mal melodischer und vertrauter, irisch angehaucht. Doch einer der Töne verursachte ihm Übelkeit und Furcht, jedes Mal, wenn die Saite angeschlagen wurde.
    Aus der Dunkelheit vor ihm formte sich ein Bild: Ein junger Mann saß in einer großen Halle an einer Harfe und spielte sie hingebungsvoll mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf den Lippen, während um ihn herum Männer in Kettenhemden aufeinander einschlugen und sich aufs grausamste abschlachteten. Die Sprache, in der sie sich anbrüllten, identifizierte Will als eine Art Englisch. Am Gürtel eines der Ritter meinte Will den Lederbeutel zu erkennen, den eben noch der Fellbehängte getragen hatte.
    Das Harfenspiel wurde leise und leiser, dann vernahm Will eine Frauenstimme, die etwas rezitierte. Und dieses Mal verstand er die Worte:
    Geliebte!
    Möge der Mond über dich wachen, mögen die Sterne dir den Weg leuchten, der dich zu mir führt. Entgehe dem Dolch der falschen Freundin und kehre keinem den Rücken. Sie wollen unsere Liebe vernichten, sie wollen unsere Herzen versteinern. Nichts soll von uns bleiben. Doch damit machen sie uns umso stärker. Und töten sie uns, sind wir bei den Toten glücklicher als bei den Lebenden. Möge der Mond über dich wachen, mögen die Sterne dir den Weg leuchten, der dich zu mir führt, Geliebte.
    Während er lauschte, sah er, wie eine mächtige nächtliche Stadtsilhouette sich aus einer Wüste erhob, über der ein Blatt Papyrus schwebte, das vom Wind auf ihn zugetrieben wurde. Die Buchstaben darauf leuchteten zum Klang der Frauenstimme nacheinander auf. Der Papyrus wirbelte und segelte auf Will zu, doch dann wurde es schlagartig Tag. Eine behaarte Männerhand mit einer Schriftzeichen-Tätowierung packte die Seite, doch er fing sie nicht aus der Luft, sondern riss sie achtlos aus einem Rucksack hervor, in dem sich viele altertümliche Gegenstände befanden. Will erkannte, dass er mitten in einer antiken Ruinenstadt stand, Hunderte von atemberaubenden Säulen um sich herum. Unvermittelt senkte sich die Nacht herab, und dann war es wieder so dunkel, dass er nichts mehr erkennen konnte.
    Plötzlich erschien die Brille wieder. Zwei Hände griffen nach ihr und brachen die Fassung auseinander, und aus der intakten Hälfte formte sich ein Monokel, durch das Will eine feiernde Gesellschaft in Kleidern der Belle Epoque erkannte. Musik erklang, es wurde gelacht und getanzt.
    Die Szenerie

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