Blutportale
wechselte, und er sah durch das Glas die Flure eines Varietes, dann den Eingangsbereich, in dem es von Gästen und Livrierten nur so wimmelte. Auf einem Plakat erkannte er das Wort Wintergarten, die Namen Grock und Rivel, dann heulten Sirenen wie bei einem Bombenalarm.
Er sah einen Mann und eine Frau in eleganter Robe, die sich durch die Menge kämpften und zielstrebig auf ihn, den Monokelträger, zubewegten; ihren entschlossenen Gesichtern nach zu urteilen, hatten sie etwas vor. Die Frau hob die Hand und deutete mit einem Brillantring auf ihn, die andere Hand vollführte eine Bewegung in der Luft und formte ein Zeichen. Eine gewaltige Explosion zerriss den Raum, und das Bild schwankte hin und her. Das Monokel fiel zu Boden, als sein Träger nach hinten geschleudert wurde ...
X. KAPITEL
8. November
Deutschland, Hamburg, Sandtorkai
Als Will zu sich kam, dröhnten seine Ohren. Alles um ihn herum schien sich zu bewegen.
Vorsichtig öffnete er die Augen - und sah Saskias Kinn über sich schweben. Sein Kopf lag auf ihrem Schoß. Er hatte einen unangenehmen metallischen Geschmack im Mund, schluckte schwer und blinzelte, weil ihn das Licht blendete. Langsam begriff er, dass sie sich in einem Auto befanden. »Ich bin wach«, sagte er heiser und richtete sich mühsam auf.
Fast gleichzeitig hielt der Wagen an, sie waren am Hafen angekommen. »Bitte sehr, Sandtorkai, das hier müsste die 56 sein.« Der Fahrer schaute Justine an. »Das macht dann siebenunddreißig Euro.«
Sie deutete wortlos auf Will. »Er macht das.«
Immer noch benommen, zückte Will seinen Geldbeutel und bezahlte den Fahrer. Sie stiegen aus. Als er strauchelte, legte Saskia sich schnell einen seiner Arme über die Schulter, um ihn so zu stützen. Langsam gingen sie zu dem Haus hinüber, das zu den Projekten in Hamburgs HafenCity gehörte, die bereits fertiggestellt waren; andere Hochhäuser befanden sich noch im Bau, ebenso wie die Elbphilharmonie.
»Was war los?« Justine nahm ein Päckchen Kippen aus dem Mantel. Gleich darauf hatte sie eine Zigarette zwischen den Lippen und rauchte.
»Wo haben Sie die herbekommen?« Saskia staunte.
»Die Schachtel lag im Taxi. Und das Feuerzeug steckte direkt mit drin.« Sie grinste. »Für siebenunddreißig Euro ist das im Preis inbegriffen.«
»Sie sind unglaublich.« Will hielt sich mit seiner linken Hand an Saskias Schulter fest und mit der rechten seinen Kopf, fuhr sich mit dem Finger in die Ohren und unter der Nase entlang. Der Geschmack in seinem Mund schien Blut zu sein, und er wollte sichergehen, dass er keine Verletzungen hatte. Die Explosion, die er in seiner Vision erlebt hatte, hallte immer noch in seinen Ohren nach, und er meinte Staub zwischen den Zähnen knirschen zu hören. »Das ist gut so.« Justine marschierte mit einem zufriedenen Lächeln auf den Eingang zu. »Alors?«
»Wir sollen bei Froemanns klingeln, aber damit warten Sie, bis wir bei Ihnen sind, verstanden?«, gab Saskia Anweisung, bevor sie Will deutlich sanfter fragte. »Geht es dir wieder besser?«
»Ich ... ich hatte ... eine Vision, glaube ich«, berichtete er abgehackt. »Deine Berührung hat sie ausgelöst.« Er dachte an das Wort Mediatrice, das die Französin benutzt hatte. »Von was? Dem Dämon?«
»Nein, es war etwas anderes ...« Will legte seine rechte Hand auf den Rücken, der zu schmerzen begonnen hatte. »Verschiedene Orte und Gegenstände. Eine Brille, eine Harfe, ein Monokel, das jemand bei einer Explosion in Berlin verloren hat...« Er sah sie ratlos an. »Keine Ahnung, was es zu bedeuten hat, doch es hängt mit dem Dämon zusammen, da bin ich mir sicher.« »Lass uns darüber sprechen, wenn wir uns hinsetzen können.« Saskia merkte, wie sein Arm auf ihrer Schulter schwerer wurde, sie aber auch wärmte - und ein Gefühl in ihr auslöste, das sie nicht einordnen konnte. Habe ich ihm das angetan?, fragte sie sich schuldig.
Wenige Schritte später kamen sie vor der Tür an. Was die Architektur des Gebäudes schon vermuten ließ, wurde durch die Klingelschilder bestätigt: In dem Gebäude schienen sich ausschließlich Firmen zu befinden. Über der Gegensprechanlage war eine Videokamera angebracht worden.
Justine warf Saskia einen ungeduldigen Blick zu, während sie begann, mehrmals lange auf den Knopf neben dem Schild zu drücken, auf dem Froemanns Inc. stand. »Merde, was dauert denn da oben so lange?« Justine versetzte dem Klingelknopf einen regelrechten Schlag und fluchte in ihrer Muttersprache. Endlich
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