Blutrausch
Sonnenblende herunter und gebe Vollgas.
Der Morningside Park trägt seinen Namen nicht ohne Grund. Die Klippe ist Teil einer Erhebung, die entlang der oberen Hälfte der Insel verläuft. Der Westen Manhattans ist bergig, der Osten flach. Und der Park? Weist Richtung Osten. Ich fahre aus der Garage und direkt auf die Sonne zu. Die getönten Scheiben sind jeden Cent wert, den Riesenbrille in sie investiert hat. Warum? Weil meine Augen nicht sofort verdampfen. Auf der Morningside Avenue fahre ich Richtung Norden. Die Sonne befindet sich jetzt rechts von mir und ist hinter Wolken verborgen. Ich folge der Straße. Nach einem Block geht es einen Abhang hinunter auf die Amsterdam zu. Nach einer weiteren Rechtskurve wird der Abhang steiler und die Gebäude höher. Ich fahre jetzt im Schatten. Biege erneut rechts ab, und über den MLK Boulevard erreiche ich die Harlem Plain. Zurück im Hood.
Glühende Herdplatte?
Offenes Feuer?
Auf meiner Haut kann ich keine graduellen Unterschiede mehr feststellen. Es brennt einfach nur höllisch. Getönte Scheiben hin oder her, wenn ich noch länger hier draußen bleibe, werde ich gegrillt. Ich bin versucht, den West Side Highway zu nehmen, aber um diese Zeit wird er völlig verstopft sein. Im Stau stehen, während die Sonne immer höher steigt? Keine gute Idee. Auf der anderen Seite des Hancock Square sehe ich das große Einkaufszentrum, das sie dort vor ein paar Jahren hingestellt haben. Ein Teil des Versuchs, Harlem wieder aufzuwerten. Es sieht jetzt schon verwahrlost aus, aber zumindest hat es eine öffentliche Tiefgarage. Ich fahre hinein, lasse das Fenster herunter, ziehe einen Parkschein aus dem Automaten und tauche in die tiefe Dunkelheit. Es dauert ein paar Minuten, bis ich einen Parkplatz finde, der breit genug für den Rover ist, aber wen juckt’s.
Auf meinen Handrücken wölben sich Blasen. Ich habe wohl ein paar Sonnenstrahlen abbekommen, als ich den Jungen hinter den Vorhang gezerrt habe. Die Verbrennungen setzen sich auf meinen Unterarmen fort. Aber ich werd’s überleben. Für den Moment zumindest. Die wirklichen Probleme kommen ohnehin erst danach.
Ich sehe mir Riesenbrille an. Ein Muskel in seiner Wange zuckt. Wenn er seinen Schuss so dosiert hat wie die Mädchen beim Grafen, sollte er ziemlich bald wieder fit sein. Ich durchsuche ihn erneut, um wirklich sicherzugehen, dass er keine weiteren Waffen bei sich hat. Dann nehme ich mir das Auto vor. Nur ich, Riesenbrille und ein Koffer voll Anathema.
Ich frage mich, was das Zeug für ein Verfallsdatum hat. Aber wenn der Trottel genug Zeit hatte, um sich einen Schuss zu setzen, muss es bestimmt ein paar Stunden lang wirksam sein. Er hätte das Zeug ja ganz sicher nicht am helllichten Tageslicht ausgefahren. Also muss es mindestens zwölf Stunden lang frisch bleiben. Ich nehme einen der Beutel und stecke ihn in die Jackentasche.
Es ist Zeit, Digga anzurufen.
Das Anathema ist der Beweis, den er haben will. Als Bonus bekommt er den quicklebendigen Riesenbrille, den er nach Herzenslust ausquetschen kann. Wenn ich’s geschickt anstelle, springt vielleicht noch was für mich dabei raus. Blut oder Geld. Was letztlich auf’s Gleiche hinausläuft.
Ich klappe Riesenbrilles Handy auf.
– Chubby.
– Joe. Schön von dir zu hören.
– Auch gut, deine Stimme zu hören, Chubs.
– Kann ich dir irgendwie helfen?
– Tja, langsam wird’s peinlich. Du hast mir ja kürzlich erst einen Riesengefallen getan.
Er grunzt.
– Für dich zu bürgen? Joe, das war kein Gefallen. Das gehört zum Geschäft. Wenn mich jemand anruft und nach deinen Referenzen fragt, gehört es zum guten Ton, dass ich ihm die Wahrheit sage. Mehr hab ich nicht getan. War mir ein Vergnügen. Wirklich. Aber du hast noch etwas anderes auf dem Herzen?
– Ich brauche eine Nummer.
– Hm?
– Ich mach’s auch wieder gut, sobald ich zurück bin.
– Zurück? Bist du immer noch in den nördlichen Gefilden unterwegs, mein Freund?
– Im Moment ja.
– Tja. Wenn ich dir helfen kann, heil nach Hause zu kommen, werde ich das tun.
Er gibt mir die Nummer.
– Danke, Chubs.
– War mir ein Vergnügen. Wie immer.
– Apropos.
– Ja?
– Ich wusste gar nicht, dass du so gute Verbindungen hast.
– Vorsicht, Joe. Nutze sie mit Bedacht.
Er legt auf.
Ich wähle die Nummer.
– Was geht?
– Die Sonne. Und zwar auf.
Er kapiert’s nicht.
– Kapierst du, Digga? Was geht? Die Sonne. Und zwar auf.
Jetzt kapiert er’s.
Ich sage ihm, wo.
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