Blutrose
Kielwasser mit. Clare folgte ihr in ein kühles Studierzimmer. Auf einem niedrigen Tisch lag ein Stapel mit eselsohrigen Schriften über Gebet und Meditation, Heilung und Liebe, HIV/Aids und Sterben in Würde.
»Nach wem genau suchen Sie?«, fragte Schwester Rosa, noch während sie sich setzte.
»Nach einem Jungen«, sagte Clare. »Ich hoffe sehr, dass er bei Ihnen und noch am Leben ist.«
»Wie heißt er?«
»Ronaldo. Mehr weiß ich nicht über ihn. Einen Nachnamen scheint er nicht zu haben.«
Schwester Rosa schlug einen ledergebundenen Folianten auf. Sie blätterte darin, bis sie die ihm gewidmete Seite gefunden hatte. »Da haben wir ihn.« Sie schob das Buch zu Clare hinüber. »Mehr haben wir nicht über ihn.«
Es waren nur wenige Einträge: der Name des Jungen. Sein Alter: knapp vierzehn. Eltern: unbekannt. Vorige Adresse: keine. Einlieferungsdatum: vor vier Wochen, kurz bevor Fritz Woestyn tot an der Pipeline gefunden worden war.
»Ein junges englisches Mädchen, Mara Thomson, brachte ihn her«, sagte Clare.
»Das arme Kind«, bestätigte Schwester Rosa. »Sie hat ihr Herz an diesen Ort verloren.«
»Sie kannten sie gut?«
Schwester Rosa nickte. »Sie war öfter bei uns.«
»Vier Freunde dieses Jungen sind gestorben. Und nun ist Mara verschwunden«, erzählte Clare.
»Wo ist sie hin?« Schwester Rosa klang tief besorgt.
»Das versuche ich gerade herauszufinden. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Vor ungefähr einer Woche. Sie kam den Jungen besuchen, nach dem Sie fragen.«
»Ich würde ihn gern sehen. Vielleicht kann er mir weiterhelfen.«
»Kommen Sie hier entlang«, sagte die Nonne nach kurzem Zögern. »Er hat ab und zu einen lichten Moment.«
Clare folgte Schwester Rosa einen von Tamarisken überschatteten Gartenweg entlang. Am Ende stand eine löchrige
Reihe mit alten Steinkreuzgräbern. Daneben erhoben sich zahllose frische Hügel, pastillenförmige Erdhaufen mit einfachen Holzkreuzen. Auf den jüngsten Gräbern lagen Steppenblumensträuße. Die übrigen waren schmucklos. Schwester Rosa ging an dem Friedhof vorbei und auf ein Steingebäude zu, das im Schatten grün leuchtender Bäume stand.
Im Gebäude war es angenehm dunkel und kühl. Bei ihrem Eintritt erhob sich eine alte Nonne mit einem Gesicht wie eine runzlige Walnuss. »Der kranke Junge?«, fragte Schwester Rosa die Nonne. Die Frau deutete auf eine offene Tür, und sie traten ein.
»Da ist er, Ihr Ronaldo.«
Das Kind lag, bis auf die Knochen abgemagert, auf einem schmalen Bett und hing am Tropf. Ronaldos Atem ging mühsam; seine Lippen waren aufgesprungen und ausgetrocknet; die Haut war mattgrau. Auf dem Nachttisch stand ein Foto. Derselbe Junge in aufgeschüttelten Kissen mit einem strahlenden Grinsen auf dem hageren Gesicht.
»Das hat Mara bei ihrem letzten Besuch hier aufgenommen«, sagte Schwester Rosa. »Er war so stolz darauf.« Sie befeuchtete ein Tuch unter dem Wasserhahn und wischte damit über das Gesicht des Jungen. Ronaldos Lider öffneten sich flatternd und schlossen sich sofort wieder.
»Mara wusste, wie krank er ist?«, fragte Clare.
»Sie rief vor ein paar Tagen an, und ich musste ihr mitteilen, dass es ihm viel schlechter ging«, sagte Schwester Rosa. »Das ist bei seiner Verfassung nicht überraschend, aber sie war trotzdem tief getroffen. Sagte immerzu, es sei allein ihr Fehler.«
»Hat Mara noch mehr Jungen zu Ihnen gebracht?« »Nein«, sagte Schwester Rosa. »Nur ihn, obwohl sie öfter Geld für uns gesammelt hat. Ronaldo spielte in ihrer Fußballmannschaft, und sie erzählte etwas davon, dass sie ihn überanstrengt hätte. Offenbar hat das sein Immunsystem erschüttert,
denn er kollabierte nach einem Zeltausflug, den Mara für die Mannschaft organisiert hatte. Direkt danach brachte sie ihn zu uns und bat uns gleichzeitig, Stillschweigen zu wahren. Ronaldo hatte solche Angst, dass jemand davon erfahren könnte. Diese Krankheit hat ein schreckliches Stigma.«
»Was bringt ihn denn um?«
»Technisch betrachtet eine einstellige Helferzellen-Zahl. Er hat praktisch kein Immunsystem mehr und bietet dadurch den verschiedensten Sekundärinfektionen idealen Nährboden. Letztendlich wird sein Herz aufhören zu schlagen.« Schwester Rosa strich über die Stirn des Jungen. »Aber das Herz wurde ihm schon vor langer Zeit gebrochen.«
»Missbrauch?«, fragte Clare.
»Missbrauch, Armut, Aids. Es ist nicht schwer für ein Kind, sich an einem Ort wie Walvis Bay durchzuschlagen, aber die Art, wie er
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