Blutrose
Clare.
Tamar schüttelte den Kopf. »Ich muss noch die Hafenbücher durchackern, um festzustellen, ob es eine Überschneidung zwischen den Schiffen im Hafen und den Morden gibt.«
»Haben Sie denn schon etwas gefunden?«
»Nicht viel. Da wären die russischen Schiffe natürlich. Die Alhantra war die ganze Zeit über im Hafen. Der Kapitän ist Ragnar Johansson. Sie kennen ihn, glaube ich.«
»Stimmt«, sagte Clare. »Von meinem letzten Besuch hier.« Sie wusste nicht, wie sie Tamars Miene deuten sollte.
»Ein paar andere gäbe es auch noch, aber zwingend ist das alles nicht«, fand Tamar. »Ich muss noch ein paar Sachen nachprüfen. Wir sehen uns später.«
Clare nahm ihre Unterlagen und folgte Karamata zu dem Land Cruiser. Er öffnete ihr die Tür, ehe er sich auf dem Fahrersitz niederließ.
Karamata nahm die Straße entlang der Lagune, bog aber bald auf eine ungeteerte Piste ab. Clare öffnete Nicanor Jones’ Akte. Ein Klassenfoto, vor mehreren Jahren aufgenommen, steckte im vorderen Umschlag. Ein kleiner Junge mit glänzenden Augen und einem breiten Mund lächelte zu ihr auf, erstarrt in dieser letzten Protokollierung eines offiziellen Anlasses. Auf dem nächsten Bild waren seine Augen leere Höhlen, unter denen die weißen Wangenknochen leuchteten. Es gab auch ein Bild seines Rumpfes. Er war blutig, die Haut
über dem knochigen Brustkorb aufgerissen. Clare wandte den Blick ab.
»Nicht schön«, sagte Karamata.
»Nein«, bestätigte Clare.
Karamata bog nach rechts in den nackten Sand ab. Die Räder griffen, und der Land Cruiser erklomm den Dünenkamm. Dahinter verborgen lag am Fuß der Düne ein Paradies für Müllklauber.
»Da unten habe ich ihn gefunden.« Karamata deutete auf die rostigen Stacheldrahtschlingen, die sich rund um die Müllkippe zogen. Er zog ein Panoramafoto heraus und hielt es hoch. Die Bildkomposition rückte den schlaffen Knabenleichnam in den Vordergrund und verlieh dadurch dem endlosen Sand Perspektive.
Von ihrem Aussichtspunkt aus konnte Clare die Straße sehen, die in die Stadt zurückführte, außerdem die Lagune und den Hafen dahinter. »Auf dieser Seite des Zaunes?«, fragte sie.
»Ja. Er war an diesen Pfosten dort gefesselt.« Karamata deutete auf einen dicken Pfahl, der das Stacheldrahtgewirr in Position hielt.
»Wer ihn abgeladen hat, kam demnach nicht von der Müllkippe her. Wenn Nicanor Jones durch diesen Stacheldraht gezerrt worden wäre, ob lebendig oder tot, wäre er völlig aufgeschlitzt worden. Wer auch immer ihn hier abgeladen hat, kam also durch den Sand. Spuren haben Sie keine gefunden?«
»Nein«, meinte Karamata. »Aber es war windig, darum hätte sich nichts erhalten.«
Der Akte zufolge war es ein ebenso unergiebiger Fundort wie der Schulhof. »Aber er wurde nicht hier getötet, oder?«
»Nein«, bestätigte Karamata. »Als er gefunden wurde, war er schon fünf Tage tot.«
Clare sah den Schrein vor sich, den sie und Tamar für dieses Kind des Leides, das Mittwochskind, angefertigt hatten. Demzufolge war genau wie bei Kaiser Apollis der Freitag sein Todestag
gewesen. Sie sah wieder auf die Autopsiebilder. Die Verstümmelung war ein Werk von Menschenhand. Und wo war er bis dahin gewesen? Warum war sein Leichnam vor den Aasfressern versteckt worden? Wann war er dort abgelegt worden?
Clares Blick schwenkte über den nichts verzeihenden Sand und Fels. Die riskante Anordnung, die Komplikationen beim Transport eines mehrere Tage alten Leichnams, die Zurschaustellung an einem öffentlichen Ort, das alles ergab keinen Sinn. Oder hatten die Kinder die Toten sehen sollen? Als eine Art Warnung, so wie Shipanga gesagt hatte.
»Der Leichnam muss von dort, wo die Müllsammler schlafen, gut zu sehen gewesen sein«, bemerkte sie.
»Sie behaupten, sie hätten nichts gehört und nichts gesehen«, sagte Karamata. »Gesagt haben sie jedenfalls nichts.«
Ein blauer Mülllaster rollte über das schwarze Teerband. Er rumpelte an einem fensterlosen Backsteinbau vorbei und auf eine Waage. Ein Mann mit Klemmbrett notierte Nummernschild und Gewicht, bevor er den Laster weiterwinkte.
»George Meyer. Der Boss.« Karamata stellte den Motor ab. »Das ist seine Verbrennungsanlage.«Aus dem dunkel vor dem grauen Himmel aufragenden Schornstein stiegen Qualmspiralen in die stille Luft. Sie trieben der Stadt zu.
»Es wäre so viel einfacher, eine Leiche zu verbrennen«, sagte Clare wie zu sich selbst.
»Sollte man meinen«, bestätigte Karamata. »Allerdings müsste man dafür erst
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