Blutrot wie die Wahrheit
unbeschreiblich. Ich fühlte mich so frei, so ⦠wagemutig und gefordert.â
âDoch dann stellte Ihr Vater diesen Februar auf einmal die Zahlungen einâ, sagte Nell.
âMeine Eltern hatten gehofft, dass ich in Europa einen vorzeigbaren Gatten finden würde â jemand mit einem guten Stammbaum, der über meine exzentrischen Marotten hinwegsah, wenn er dafür nur ein wenig vom Prattschen Vermögen abbekam. Nach vier Jahren wird auch ihnen endlich aufgegangen sein, dass dieser Wunsch sich nicht erfüllen wird, und sie haben sofort die finanzielle Bremse gezogen. Als ich nach Hause zurückkehrte, war mir, als käme ich ins Gefängnis. Vera â arme herzensgute Seele, die sie ist â ist der einzige Mensch in diesem Haus, mit dem ich reden kann. Natürlich ist sie ein bisschen seltsam, aber sie kann wenigstens gut zuhören.â Nach kurzem Blick auf das Haus senkte Emily vertraulich die Stimme. âMeine Eltern haben sich allerdings geschnitten: Ende des Monats werde ich wieder in See stechen.â
âIm Ernst?â
âJa, ich habe eine Ãberfahrt mit Cunard nach Liverpool gebucht. Am 26. läuft das Schiff aus.â
âUnd Ihre Eltern wissen nichts davon?â
Emily drückte ihre Zigarette in der leeren Konfektschale auf ihrem Schoà aus und schüttelte den Kopf. âNein, und ich werde ihnen auch erst in letzter Minute Bescheid sagen. Damit sie mich nicht mehr aufhalten können.â
âWird Ihre Tante Vera Sie wieder begleiten?â
âNein, und glauben Sie mir â¦â Emily runzelte die Stirn und sah nachdenklich beiseite. âNein, sie kommt nicht mit. Ich habe genug von H.P.B. bis an mein Lebensende â bis ans Ende mehrerer Leben.â
Nell überlegte gerade, wie sie die unschickliche Frage formulieren solle, wo denn das Geld für diese neuerliche Reise herkomme, als Emily auf einmal fragte: âWas meinen Sie eigentlich, wie alt Dr. Foster wohl ist?â
Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis Nell auf diesen geschwinden Themenwechsel reagieren konnte. âNicht älter als vierzig, würde ich meinen. Vielleicht auch erst fünfunddreiÃig. Warum?â
âNur soâ, erwiderte Emily achselzuckend und klopfte noch eine Zigarette aus ihrem Etui heraus.
âIhre Mutter schien erfreut über sein Interesse an Ihnenâ, sagte Nell. âUnd über das Martinsâ, setzte sie hinzu.
Emily schnaubte belustigt, während sie sich ihre Zigarette anzündete. âMit Martin bin ich aufgewachsen. Wir sind gleich alt und hatten uns immer viel zu erzählen. Aber können Sie sich mich allen Ernstes als Pfarrersfrau vorstellen?â
âNein, eigentlich nicht.â Nell lächelte. âAber wie wäre es mit Isaac Foster?â
âWäre ich bereit zu heiraten und damit all meine Rechte und meine Freiheit und mein Vermögen aufzugeben, dürfte er als Kandidat wohl durchaus in Frage kommen. Aber ich bin nicht Cecilia. Meine Gedanken kreisen nur ums Reisen und darum, über meine Reisen zu schreiben und vielleicht sogar den einen oder anderen Text zu veröffentlichen. Cecilia denkt lieber an Schmuck und Geschmeide. Wenn er nur hell genug glitzert, würde sie auch noch ihre Seele für ein Juwel verkaufen. Von Harry hat sie Diamanten und Rubine bekommen, barocken Perlenschmuck von Jack Thorpe, ihrem ersten Verlobten, Sie wissen schon â der, der gestorben ist, und Saphire von Felix Brudermann, der Nummer zwei.â
âDer Ãsterreicher?â
Emily nickte. âEigentlich gehört es sich so, dass eine Dame nach dem Ende eines Verlöbnisses den Schmuck ihrem einstigen Verehrer zurückgibt, aber Cecilia hat natürlich alles behalten, auch die Saphire, die sich seit Generationen schon im Besitz von Felixâ Familie befanden. Und dabei hat er sein gesamtes Vermögen dafür aufgewandt, die Steine für sie neu fassen zu lassen.â
âSein gesamtes Vermögen? Ich dachte, er sei ein reicher Adeliger?â
Emily streckte die Hand aus, um Nell das Sherryglas wieder abzunehmen. âTja ⦠Es gibt eben solchen Adel und solchen. Wir Amerikaner gehen zumeist davon aus, dass jemand, der einen Titel hat, auch reich und mächtig und kultiviert ist, aber wenn Sie erst einmal eine Weile in Europa zugebracht haben, werden Sie bald merken, dass dem keineswegs so ist. Schauen Sie sich Felix an. Sein vollständiger Name lautet Felix
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