Blutrot wie die Wahrheit
es sie nicht zu kümmern. Ãber den Rand ihres Glases hinweg musterte sie Will mit so abgeklärtem Blick, dass es Nell Schauder des Unbehagens über den Rücken jagte.
Etliche Minuten vergingen, bevor Orville Pratt sich zu ihnen gesellte, makellos gekleidet mit feinem schwarzen Frack und Fliege. Vom Scheitel bis zur Sohle war er das Inbild eines unbescholtenen und respektablen Geschäftsmannes der Bostoner Oberschicht â wenn man einmal von seinem blauen Auge absah, das sich langsam grünlich färbte, und seinen leicht geröteten Lippen. Er schien versucht zu haben, die Farbe abzuwischen, doch manche der intensiveren Töne hinterlieÃen gern einen hartnäckigen Farbschimmer. Zunächst nahm Nell an, dass er wohl Daisys Lippenrot abgeküsst hatte â bis ihr auffiel, dass seine Lippen keineswegs die verblassten Spuren leuchtenden Kirschrots zeigten, wie sie es trug, sondern ein warmes, orange getöntes Zinnoberrot.
Finster sah Pratt seine ungebetenen Besucher an und lieà seinen ungnädigen Blick auf Will ruhen. âWas hat das zu bedeuten, Hewitt?â
âFiona Gannons Onkel hat Miss Sweeney gebeten, den Mord an Mrs. Kimball zu untersuchenâ, erklärte Will. âWir haben allen Grund zu der Vermutung, dass Ihre Lefaucheux bei dem Mord eine Rolle spielte.â
Pratt hob die Brauen, als habe er nicht recht gehört. âNun, den Mord hat Fiona Gannon begangen und zwar mit Mrs. Kimballs eigener Pistole. Das ist bewiesen. Dass Sie mich jetzt hier derart überfallen, ohne sich auch nur einen Deut um meine Privatsphäre oder um gesellschaftliche Gepflogenheiten guten Benehmens zu scheren, beweist indes nur, was Ihr werter Vater seit Jahren schon über Sie sagt. Ein Gentleman hätte so etwas nicht getan, und wenn Sie noch einen letzten Rest Anstand in sich haben, verlassen Sie dieses Zimmer auf der Stelle und entschuldigen sich zudem bei Miss Sweeney dafür, sie hierher gebracht zu haben. Im Gegenzug wäre ich bereit, Ihren unwürdigen Fauxpas zu übersehen und so zu tun, als wäre dies nie geschehen.â
âAlle Achtung, Sirâ, sagte Will. âIch hätte in so kurzer Zeit keine so schöne Rede ersinnen können. Doch der Grund, weshalb wir hier sind, ist der: Wir haben erfahren, dass Sie Mrs. Kimball gedroht haben, sie umzubringen â genau einen Tag, bevor sie dann tatsächlich umgebracht wurde. Gewiss verstehen Sie, dass dieser Umstand unsere Neugier geweckt hat.â
âVielleicht habe ich mich ja nicht deutlich genug ausgedrücktâ, hob Pratt erneut an. âIch wünsche, dass Sie Miss Sweeney umgehend aus diesem â¦â
âOh nein, ich fürchte, dass ich es war, der sich missverständlich ausgedrückt hatâ, unterbrach ihn Will. âMiss Gannons Schuld ist keineswegs bewiesen, und es besteht erheblicher Grund zu der Annahme, dass der Fall wieder aufgenommen wird. Sollte es dazu kommen, wird Ihr Name ganz oben auf der Liste der Verdächtigen stehen.â
âNur, weil irgendein verschrobener alter Dramatiker meint, er hätte mich eine Drohung äuÃern hören?â
âIch nehme an, Sie sprechen von Mr. Thurstonâ, sagte Nell kühl. âAber wie kommen Sie eigentlich darauf, dass er es war, der uns erzählt hat, was Sie Mrs. Kimball gegenüber geäuÃert haben?â
âWas ich angeblich geäuÃert haben soll.â Mit langen Schritten durchmaà der Anwalt den Salon und trat an das Spirituosenkabinett. âHimmel noch mal, Daisyâ, sagte er ungehalten, als er die leere Karaffe schüttelte. âDie war vor drei Tagen noch voll.â
âGin ist noch daâ, erwiderte sie und hob ihr Glas an ihre leuchtend roten Lippen.
Pratt goss sich recht groÃzügig ein und nahm einen tiefen Schluck Gin. Angewidert verzog er das Gesicht.
âWir wissen über Ihre Affäre mit Mrs. Kimball Bescheidâ, klärte Will ihn auf.
âEine Unverschämtheit ist das!â Pratts Ohren erglühten in Scharlachrot. âWer hat Ihnen das erzählt? Thurston etwa? Der hat mich ja schon von dem Tag an nicht ausstehen können, da Mrs. Kimball meine Mandantin geworden war. Er war auf jeden eifersüchtig, den sie kannte.â
âWir wissen auch, dass sie Sie erpresst hatâ, sagte Nell.
âSie hat dich erpresst?â, rief Daisy in freudiger Verwunderung aus.
âKommen Sie besser nicht auf dumme Gedankenâ,
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