Blutrot wie die Wahrheit
Ach ja, âdie glühende Leidenschaft, die unter seiner kühlen Fassade lodertâ. Sie war ganz verrückt nach Ihnen. Aber â¦â Mit einem bedauernden Seufzen hob er die Schultern. â Il conte kam leider zurück. Er versorgte sie nun mal, hielt sie wie eine wahre Prinzessin. Deshalb musste sie Sie loswerden und zwar schnell.â
âSie hätte mir die Situation auch erklären könnenâ, meinte Will, âund mich bitten, aus freien Stücken zu gehen â¦â
âWären Sie denn so einfach gegangen, oder wären Sie nicht vielmehr geblieben und hätten um sie gekämpft?â
Darüber brauchte Will nicht lange nachzudenken, und seine Miene sprach Bände.
Thurston lachte. âSehen Sie. Wie gesagt, die meisten Leute hatten gar keine Vorstellung davon, wie klug sie im Grunde war, wie ⦠kompliziert. Aber ich wusste es. Ich wusste es von Anfang an.â
12. KAPITEL
Vom Louisburg Square schlenderten Nell und Will zur Prattschen âFamilienresidenzâ, 82 Beacon Street, und wünschten Orville Pratt zu sprechen, der indes nicht zu Hause war. Er sei in seinem Club, erfuhren sie von Mrs. Pratt, wo er mit Freunden lunche, wie er dies ja jeden Samstag zu tun pflege.
Im Somerset Club lieà der Portier sie allerdings wissen, dass Mr. Pratt heute noch gar nicht erschienen sei, und so bald wohl auch nicht erwartet werde. âMeines Wissens kommt er samstags nie vor dem Souperâ, meinte er.
Das Tremont House, wo Orville Pratt seine neue Geliebte logieren lieÃ, lag unweit des Somerset Club â gleich gegenüber auf der anderen StraÃenseite. âWie praktischâ, befand Nell, als sie sich nun dorthin aufmachten.
Es war das erste Mal, dass sie das luxuriöse Hotel von innen sah, und es bedurfte einiger Anstrengung, die architektonische Pracht nicht allzu offensichtlich zu bestaunen. âMiss Newland?â Der Rezeptionist musste nicht einmal nachsehen und gab beflissen Auskunft: âZweiter Stock, Zimmer zwei null zwei.â
Auf Wills erstes Klopfen rührte sich nichts, und auch nicht auf sein zweites. Als er die Hand gerade zum dritten Mal hob, rief von drinnen eine mädchenhafte Frauenstimme: âHerrgott noch mal, wer isân da?â
âMein Name ist William Hewitt â ich bin ein Bekannter von Mr. Prattâ, sagte Will. âMiss Nell Sweeney begleitet mich. Es ist absolut unerlässlich, dass wir umgehend mit Mr. Pratt sprechen.â
âDer isâ nichâ hier.â Nach kurzer Pause fügte sie hinzu. âAuÃerdem kenn ich ja gar keinen Mr. Pratt.â
Mr. Thurston hatte nicht übertrieben: Daisy Newland war wirklich eine erbärmliche Schauspielerin.
âWenn Sie ihm bitte ausrichten würden, dass es um Mrs. Kimball und den Stonewall-Jackson-Revolver gehtâ, fuhr Will unbeirrt fort. âWenn Mr. Pratt aber derzeit nicht zu sprechen ist, würden wir uns an Mrs. Pratt wenden. Vielleicht kann sie uns ja auch weiterhelfen.â
Ungefähr eine halbe Minute verstrich, dann wurde die Tür von einer Blondine in einem spitzendurchwirkten Morgenmantel geöffnet, dessen Oberteil halb aufgeknöpft war, was ihre âgewissen Vorzügeâ recht offensichtlich zur Schau stellte. Ihr Haar hing offen und zerzaust herab, ihre Haut war milchig weiÃ, ihre Lippen leuchtend rot. Sie war von jener unbedarft gefälligen Schönheit, wie sie manch jungen Mädchen zu eigen ist â wären da nicht ihre schwarz umrandeten, matt und verdrieÃlich blickenden Augen gewesen.
Daisy grüÃte gar nicht erst, sondern wandte sich wortlos um und rauschte zurück durch den mit Liebe zum verspielten, wenngleich nicht unbedingt geschmackvollen, Detail eingerichteten Salon, wobei sie eine Wolke süÃlichen Parfüms hinter sich herzog. Mit der Faust hieb sie gegen eine verschlossene Tür am Ende des Raums, die vermutlich ins Schlafzimmer führte, und rief: âBist du bald fertig da drin?â
Undeutlich und gedämpft lieà sich eine Männerstimme vernehmen, die Nell indes nicht verstehen konnte. Die junge Frau trat an ein gut sortiertes Spirituosenkabinett, kippte sich den letzten Rest Whiskey aus einer Karaffe in ein Glas und machte es sich damit auf einer samtenen Chaiselongue gemütlich. Der Rock ihres Morgenmantels fiel auseinander und enthüllte ihre Beine von den Knien an abwärts; sollte sie es überhaupt bemerkt haben, so schien
Weitere Kostenlose Bücher