Blutrote Schwestern
wären sie voneinander beeindruckt, weil sie so lange in der Stadt überlebt haben. Kurz bevor ich den Park erreiche, schwappt ein Schwall lauter, hämmernder Musik durch die Dunkelheit und erstirbt sogleich – die Tür eines Clubs direkt die Straße hinunter hat sich geöffnet und wieder geschlossen. Ich drehe mich um, gehe darauf zu und halte mich dabei im Schatten der Ziegelwand, die ein altes Apartmentgebäude umgibt, während ich die Mädchen betrachte, die am Eingang Schlange stehen.
Sie tragen glitzernden grünen Strass, schimmerndes Türkis und Aquamarin auf den Lidern. Schmetterlinge. Die Haare sind bei allen gleich: Lang und gesträhnt winden sie sich über den Rücken, bis zu den Bändchen, die ihre Tops oben halten und straff verknotet sind. Die Haut der Mädchen schimmert im Neonlicht: Zimt, Ebenholz und Creme, wie poliertes Metall, fehlerlos und glatt. Ich drücke mich tiefer in den Schatten der baufälligen Mauer hinter mir, ziehe den roten Mantel enger um die Schultern. Die Narben zeichnen sich unter dem Stoff ab – wellige rote Hügel in perfekten Reihen.
Die Schmetterlinge lachen, süß und lebendig, und ich ächze vor Verbitterung. Sie streichen ihr Haar in den Nacken, strecken die Beine, wiegen die Hüften und werfen den Türstehern kokette Augenaufschläge zu. Suchen die Gefahr wie junge Tiere, die sich die Kehle aus dem Hals schreien.
Schau mich an, sieh, wie ich tanze, hast du mein Haar bemerkt, sieh noch mal hin, begehre mich, ich bin perfekt.
Dumme, dumme Schmetterlinge. Hier bin ich, rette eure Leben, zerbissen, vernarbt und verletzt, für euch, und ihr wisst es nicht einmal. Ich sollte den Fenris eine von euch holen lassen.
Nein. Das habe ich nicht so gemeint. Ich seufze und gehe auf die andere Seite der Ziegelsteinmauer, lasse zu, dass meine Finger sich im dichten Efeu verfangen. Es ist dunkel auf dieser Seite, abgeschirmt von den Neonleuchten der Straße. Ich atme langsam und beobachte, wie sich die Äste der Bäume vor dem Licht der Wolkenkratzer wiegen. Natürlich habe ich es nicht so gemeint. Ignoranz ist kein Grund zum Sterben. Sie können nichts dafür, dass sie so sind: immer noch glücklich, unwissend in einer Höhle voller falscher Schatten. Sie leben in ihrer wunderbar
normalen
Welt, in der Menschen eine Arbeit und Träume haben, die nichts mit einem Beil zu tun hat. Meine Welt ist ein Paralleluniversum – dieselben Sehenswürdigkeiten, dieselben Leute, dieselbe Stadt. Aber der Fenris lauert, das Böse schleicht umher, das Wissen existiert, ist nicht zu verleugnen. Wenn ich nicht in diese Welt gestoßen worden wäre, dann hätte auch ich einfach ein Schmetterling sein können.
Schritte kommen näher, Schritte, die ich wiedererkenne, biegen sacht den Rasen des Parks.
»Silas«, grüße ich ihn, ohne aufzublicken.
Er wird langsamer.
»Für ein Mädchen, das auf der rechten Seite blind ist, kann man sich ziemlich schwer an dich heranschleichen. Ist das so eine Art Piraten-Superkraft?«, stichelt er.
Wenn irgendjemand außer Silas sich über mein fehlendes Auge lustig machen würde, würde ich ihn verprügeln. Aber er kommt damit durch.
Ich lächele. »Ja. Wir Piraten haben alle ein super Gehör. Ist eine Nebenwirkung vom Tragen der Augenklappe.«
Er steht direkt neben der Mauer und betrachtet die Schmetterlinge. Zieht die Augen zusammen, angeekelt und fasziniert zugleich, als wäre er sich nicht sicher, ob er den Anblick mag oder nicht. Ich will etwas sagen, schweige aber. Irgendwie fühlt es sich wichtig an, auf seine Reaktion zu warten. Dann wendet er sich ab und mir im Schatten zu.
»Es ist, als würden sie es darauf
anlegen,
gefressen zu werden, oder? Weißt du, wie froh ich bin, dass du und Rosie nicht so seid wie sie?«
»Ich weiß«, sage ich und grinse erleichtert. »Rosie könnte so sein, zumindest wenn sie wollte. Sie ist wunderschön, ganz so wie sie.« Ich deute zu den Mädchen.
»Schönheit hat nichts damit zu tun. Rosie könnte niemals eine von ihnen sein. Meinst du wirklich, sie würden sich so anziehen und benehmen, wenn sie wüssten, dass sie damit die Wölfe anziehen?«
Ich nicke und runzele die Stirn. »Darüber habe ich nie nachgedacht. Ich glaube aber, du hast recht. Wissen macht einen zum Außenseiter. Oder zu einem Jäger.«
Er schaut mich aufmerksam an. »Ah ja, Scarlett March, die Königin des Schwarzweißdenkens. Gibt es denn nichts dazwischen? Zwischen diesen Mädchen und einem Jäger?«
Ich schüttele den Kopf, gehe vor bis zum Ende
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