Blutrote Schwestern
mal. Da ist es, Andern Street«, murmelt Silas und biegt rechts ab. Die Straße, in die er fährt, ist düster, als hinge trotz des sonnigen Tages eine Gewitterwolke über uns. Die Kirche mit den vergitterten Fenstern an der Ecke wirkt, als bräuchte sie dringend einen neuen Anstrich. Auch die anderen Gebäude in der Andern Street sind alt und baufällig, und eine Gruppe zwielichtig aussehender Männer lungert an der Straßenecke herum.
Silas beginnt die Hausnummern mitzuzählen und fährt langsamer.
»Das ist es«, sagt er mit einem Hauch von Endgültigkeit. Er blickt zu Scarlett und mir hinüber, während wir uns in unsere Sitze ducken, um an der Fassade hinaufzuschauen.
Eingezwängt zwischen zwei alte Bürogebäude und gegenüber von einem freien Grundstück wirkt das Haus, als sei es einst elegant, ja sogar schön gewesen: Weiße Farbe blättert von den Brettern ab, verrostete Wandlampen verleihen der Tür ein viktorianisches Flair, und eine achteckige Kuppel streckt sich dem Himmel entgegen. Die Gardinen in den meisten Fenstern sind zugezogen, keine passt zur anderen, was dem Gebäude etwas von dem Charme eines Patchwork-Kissens verleiht. Irgendwie weich, als wäre es in Gänze aus demselben Material wie ein Bienenstock gebaut und könnte leicht von einem heftigen Windstoß umgeblasen oder einem gut gezielten Stein zerschmettert werden. Eine Gruppe obdachloser Männer schielt in unsere Richtung, vom Wetter gegerbte Gesichter, die erst mich genau beobachten und dann zu Scarlett weiterwandern. Ihr Blick erstarrt, und meine Schwester rückt ihre Augenklappe zurecht.
»Wir sind im achten Stockwerk. Nur Treppen, kein Fahrstuhl«, sagt Silas, als hätte er Angst, dass wir unsere Meinung ändern könnten.
»Haben wir von dort oben aus alles gut im Blick?«, fragt Scarlett und ignoriert die Landstreicher.
»Ja. Die ganze Straße, und wir haben Zugang zum Dach.«
»Gut«, sagt Scarlett. Sie wirkt aufrichtig erleichtert. »Gut als Aussichtsposten, meine ich.«
»Stimmt«, füge ich hinzu, eigentlich nur, weil ich der Meinung bin, ich müsse auch etwas sagen.
Dann drehe ich mich um und spähe die Straße hinab. Das leere Grundstück ist von einem baufälligen Maschendrahtzaun umgeben, darauf hohes Gras und zwei Gebäude, die verlassen wirken. Ich kann die Gerippe alter Autos erkennen, Zeugen einer Zeit, in der diese Straße ein bisschen belebter war. Unter den abschätzigen Blicken der Obdachlosen wendet Silas in drei Zügen und parkt vor dem verlassenen Grundstück an einem Fleck, der gerade genug Platz bietet, um als halbwegs richtiger Parkplatz durchzugehen. Ich mustere die Männer und frage mich, ob sie vielleicht gar nicht obdachlos, sondern unsere neuen Nachbarn sind.
Klette fängt wieder an zu zetern. Ich kann nicht behaupten, dass ich es ihm übelnehme, wenn er sein neues Zuhause sehen kann. Für einen kurzen Moment blitzt die sonnige Farm in meiner Erinnerung auf, die leuchtenden Blumen, die Brise, die nach süßem Heu duftet, und das tiefe Grollen der Rinder.
Als Silas die Fahrertür öffnet, heult eine Polizeisirene in der Nähe. Er blickt am Gebäude hinauf und dann zurück in den Wagen. Scarlett rafft eilig ihre Sachen zusammen, also ruhen Silas’ Augen auf mir. Die leichte Besorgnis in seinem Blick entgeht mir nicht.
»Mir geht’s gut«, sage ich sanft. Nachdem ich die Worte ausgesprochen habe, bemerke ich, dass Silas die Frage nicht einmal stellen musste. Ich drehe mich zur Rückbank um und nehme Scarlett Klettes Katzenkorb ab. Silas öffnet den Kofferraum, schwingt sich meinen Seesack über die Schulter und greift sich eine ramponierte rote Werkzeugkiste. Als einer der Männer mir hinterherpfeift, kichert Scarlett.
»Na los, Rosie, tritt ihm in den Hintern«, sagt sie leise.
Sobald es um Wölfe geht, ist sie überfürsorglich, aber sie findet es besonders amüsant, wie es normalen Männern in den Sinn kommen kann, dass ein Mädchen sich nicht selbst zu verteidigen vermag.
Das Gebäude ist unverschlossen, und die Eingangstür schwingt so schnell auf, dass sie Scarlett beinahe ins Gesicht schlägt. Das Innere hat den Charme verrottender Schönheit: zerbrochene Fliesen, abgenutzte, ramponierte Geländer. Dem Kronleuchter an der Decke fehlen so viele Kristalle, dass er praktisch nur noch ein Ball aus Glühbirnen ist. Das Treppenhaus windet sich wie eine Spirale aufwärts, ein Apartment je Treppenabsatz. Auf halbem Weg nach oben öffnet ein muskulöser Mann seine Tür und starrt uns finster
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