Blutrote Schwestern
Es ist nicht so, dass wir irgendeinen anderen Anhaltspunkt hätten, dem wir nachgehen könnten.«
»Okay. Also, wo sind die Zeitungen?«, frage ich, schiebe die Eier auf einen Teller und lege drei Gabeln dazu. Es ist vollkommen überflüssig, drei Teller abzuwaschen, wenn auf einem Teller genug Platz ist, jedenfalls meiner Meinung nach.
»Auf Mikrofilm, in der Bibliothek«, antwortet Scarlett.
Das Mikrofilmarchiv ist eiskalt, als würden die Literaturliebhaber diesen Raum aus Loyalität zu den Buchseiten nicht heizen. Wir sind schon seit Stunden hier, so lange, dass in meinem Kopf Zeitungsartikel vorbeilaufen, selbst wenn die Maschine nicht im Schnelllauf ist. Heute sollte der erste meiner Kurstage im Kulturhaus sein, aber ich habe den Gedanken daran schon aufgegeben, um mich stattdessen durch uralte Seiten des
Simonton-Banner-Herald
zu wühlen. Ich seufze und suche eine Seite mit Todesanzeigen ab.
Joseph Woodlief
8. April 1973 – 23. Juni 1987
Joseph Woodlief, Sohn von Ruth und Eckener Woodlief, entschlief am 23. Juni im Haus seiner Eltern. Joseph war ein aktives Mitglied der Kirchengemeinde und wurde kürzlich an der prestigereichen St. Martin’s Boys’ School akzeptiert. Er war ein überragender Ruderer und begeisterter Liebhaber der klassischen Musik.
Seine Eltern, Ruth und Eckener, drei Tanten, sieben Onkel, die Großeltern mütterlicherseits und seine acht Geschwister Stewart, Katherine, Farley, Bradley, David, Todd, Benjamin und seine jüngere Schwester Abbygail trauern um ihn. Die Bestattung findet im engsten Familienkreis statt, die Angehörigen werden am 30. Juni ab 7.00 Uhr abends Beileidsanrufe entgegennehmen.
»Ist das was? Er war 14«, sage ich durch ein Gähnen hindurch und deute auf meinen Bildschirm. Das Foto des Toten ist ausgebleicht und schwer zu erkennen, außerdem wurde es gemacht, als der Junge viel jünger war, nicht älter als fünf oder sechs.
Scarlett stößt sich von der Wand ab, um mit ihrem Stuhl zu mir zu rollen. Sie studiert die Todesanzeige aufmerksam, liest jedes Wort.
»Er könnte es sein. Das Gesicht zumindest ist ähnlich«, murmelt Silas hinter meiner Schulter, und sein Atem in meinem Nacken raubt mir den meinigen.
»Dieser Satz mit der Bestattung im engsten Familienkreis ist irgendwie verdächtig. Wenn der Junge zu einem Fenris wurde, dann hätten sie keinen Körper zu beerdigen gehabt«, fügt Scarlett hinzu.
Silas nickt. »Wie war noch gleich der Name? Joseph Woodlief? Einen Moment, ich glaube, ich habe diesen Namen eben gerade schon mal gelesen«, sagt er und schiebt seinen Stuhl zurück zu seinem Mikrofilmlesegerät. Er blättert eine Zeitlang vor und zurück und deutet dann auf den Bildschirm. »Ein paar Monate, bevor er gestorben ist, und zwar unmittelbar nach seinem Geburtstag, wurde er verhaftet wegen …« Er dreht wieder an dem Rad, um die zweite Seite aufzurufen: »Wegen eines Angriffs auf ein Mädchen bei einem gemeinsamen Essen in der Nachbarschaft. Sie ist davongekommen und hat es der Polizei erzählt.«
»Das ist sogar noch verdächtiger als die Bestattung im engsten Familienkreis.« Scarlett wird hellhörig. »Es dauert eine Zeit, bis die Seele stirbt. Ich wette, der Wolf hatte den Körper des Jungen schon seit einigen Monaten übernommen, bevor die Familie die offizielle Todesanzeige herausgegeben hat.« Ein Bibliothekar kommt in den Raum und lächelt uns freundlich an, woraufhin Scarlett an die Wand schaut, um ihre Narben zu verbergen. Erst als der Bibliothekar den Raum wieder verlassen hat, lehnt sie sich in ihrem Stuhl zurück und beginnt zu grübeln.
»Also, er war ein Welpe, weil … wieso?« Wir drehen uns alle um und lesen die Todesanzeige noch einmal und noch einmal, bis Scarlett aufseufzt. »Ich dachte gerade, da wäre etwas. Ein Hinweis …«
»Wir haben leider nichts, womit wir ihn vergleichen könnten. Vielleicht brauchen wir mehr Informationen über einen zweiten Fenris«, schlage ich vor. Ich stelle schnell fest, dass ich es besser nicht gesagt hätte, da sich Scarletts Gesicht vor Frustration verfinstert.
»Ein zweiter Fenris ist nahezu unmöglich. Der hier war jung genug, um einzigartig zu sein, und er hat uns erzählt, woher er kommt. Die anderen sind einfach gewöhnlich, namen- und heimatlose Männer. Bevor wir es schaffen, das herauszufinden, ist die Mondphase des Welpen vorbei.«
»Ich weiß nicht, Scarlett … vielleicht ist es gar nichts Besonderes«, sagt Silas.
Scarlett wirft ihm einen bösen Blick zu
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