Blutrote Sehnsucht
Zukunft mit einem Mann, der zweitausend Jahre alt war? Sollte er die kommende Nacht überleben – und zu ihr zurückkehren, was eine weitere Frage war –, bedeutete das noch lange nicht, dass es eine gemeinsame Zukunft für sie gab. Sie, Ann, würde buchstäblich im Handumdrehen sterben, und er würde immer weiterleben. Während ihr weißblondes Haar noch weißer und ihre Haut ganz faltig werden würde, bliebe Stephan in der Blüte seiner Jahre – und auf der Höhe seiner Männlichkeit. Nein, es war sinnlos, sich eine gemeinsame Zukunft mit ihm auszumalen.
Stephan musste das ebenso klar sehen wie sie selbst. Wenn er seine Begegnung mit Kilkenny überlebte, würde er nach Mirso zurückkehren.
Und so würde er vielleicht nie erfahren, dass sie ihn liebte. War das Zusammensein mit ihr für ihn genauso wunderbar gewesen wie für sie? Bestimmt, denn sonst hätte er seine Aufgabe sicher nicht so lange aufgeschoben. Sie durchforschte seine Erinnerungen, die sich auf sie übertragen hatten. Er liebte sie, dessen war sie sich sicher, weil er nicht daran zweifelte. Nur war es für ihn keine beglückende Erkenntnis wie für sie, weil er glaubte, sie zu lieben sei ein Verbrechen, das aus der Welt geschafft werden musste, und das Zusammensein mit ihr habe ihn für den bevorstehenden Kampf geschwächt. Schuldbewusstsein überfiel sie. Warum hatte sie nicht rechtzeitig erkannt, was sie von ihm verlangte?
Abrupt setzte sie sich auf und zog die Decken um sich.
Weil er sich irrte.
Bilder schossen ihr durch den Kopf: Rubius’ Ermahnungen, die Grundlagen der Ausbildung. Keine Gefühle. Die Unterdrückung sexueller Energie, bis sie kanalisiert und in zerstörerische Macht verwandelt war. Die fürchterlichen Ausbildungsmethoden der Schwestern und Stephans Martyrium durch sie und ihre sexuellen Forderungen.
Sie alle irrten sich.
Und sie musste Stephan noch vor Einbruch der Nacht finden, um ihm zu sagen, wie falsch sie alle lagen. Es könnte der einzige Weg sein, ihm das Leben zu retten.
Der Weg, der vor ihr lag, trat mit einem Mal klar zutage. Entsetzliche Ereignisse. Gefahr für ihre Person und ihren Verstand. Gefahren, denen sie sich stellen musste, um ihr Ziel zu erreichen.
Und was war das Ziel, das sie erreichen wollte? Ein Leben mit Stephan. Auch wenn ihr das unmöglich schien, weil sie einander zwar lieben mochten, aber zwei völlig verschiedenen Welten angehörten. Im Grunde war es absurd.
Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Zunächst einmal musste Stephan überleben. Nein, zunächst einmal musste es ihr gelingen, ihn zu warnen. Und das bedeutete, dass sie sich mit Erich auseinandersetzen musste. Sie würde nicht einfach die Flucht ergreifen, es den Dienstboten überlassen, sich mit ihm herumzuschlagen, und Maitlands und seine Pächter im Stich lassen. Ihre Entschlossenheit nahm zu, bis sie unzerstörbar und beständig war wie Diamant. Und es wurde auch höchste Zeit. Egal, was kam, sie könnte nie wieder zu ihrer früheren Existenz zurückkehren und sich in ihrem Zimmer vor dem Leben verstecken. Jetzt hatte sie endlich ein Ziel, etwas, das sie sich mehr als alles andere auf der Welt wünschte. Und sollte Erich ihr beim Erreichen dieses Zieles im Wege stehen, musste er besiegt werden wie der Drache, der er war. Drache oder Chimäre? Das würde sich schon bald herausstellen.
Ungeduldig schlug sie die Decken zurück und verließ das Bett. Stephan hatte ihr den Weg gezeigt. Sollte es also zum Schlimmsten kommen und er getötet werden und sie nicht, musste sie seinen Rat befolgen. Aber zunächst einmal diente sein Rat ihren Zwecken in anderer Weise. Ann setzte sich an ihren Sekretär. Mrs. Simpson würde bald das Frühstück bringen, und bis dahin musste sie die Nachricht für Jennings und auch die anderen geschrieben haben.
Ann kam in einem schlichten, bequemen Kleid aus graublauem Tuch herunter statt in dem, das Mrs. Simpson ihr als Geschenk Erichs hinaufgebracht hatte. Niemals würde sie ihm die Genugtuung verschaffen, sich seinen Wünschen zu beugen. Mrs. Simpson erwartete sie in der Eingangshalle, und Ann zog fragend eine Augenbraue hoch.
Mrs. Simpson nickte. Jennings hatte schnell gehandelt. Ihr eilig zurechtgelegter Plan wurde bereits umgesetzt ...
Ann hatte ihre Gefühle nahezu perfekt unter Kontrolle. Sie würde um ihren Onkel trauern, sowie sie wieder Zeit dazu hatte, aber im Moment musste sie all ihre Kräfte zusammennehmen, und das bedeutete, ihren Kummer zunächst einmal hintanzustellen. Laut Erich
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